Internationaler Literaturpreis für Shumona Sinha
14. Juni 2016Es ist eine überraschende Wahl. Ausgezeichnet werden die Autorin Shumona Sinha und ihre Übersetzerin Lena Müller für den Roman Erschlagt die Armen! Die Jury würdigt damit ein Buch, das vordergründig das Thema Flüchtlinge behandelt und damit aktueller nicht sein könnte. Doch als das Original Assomons les pauvres! 2011 im Pariser Verlag Editions de l'Olivier erschien, war Deutschland noch nicht das Ziel Hunderttausender Flüchtlinge und das Unwort Flüchtlingskrise noch nicht erfunden. Die Jury lobt damit auch "die diagnostische Kraft der Literatur".
Shumona Sinha hat ihrer Figur die eigene Erfahrung mitgegeben
Das Buch der seit 15 Jahren in Paris lebenden Autorin ist aber weit mehr als ein Kommentar zu einem schwierigen aktuellen Thema. Die Ich-Erzählerin berichtet von Geflüchteten, die in einer Pariser Einwanderungsbehörde ihre verzweifelten Geschichten erzählen. Geschichten, die fast immer erfunden sind, oft für Geld erworben, um in einem System bestehen zu können, in dem die Wahrheit keine Chance hat. Die Erzählerin selbst arbeitete als Dolmetscherin in eben dieser französischen Asylbehörde. Shumona Sinha hat ihrer Figur die eigene, jahrelange Erfahrung mitgegeben.
Die Autorin wurde 1973 in Kalkutta geboren und lebt seit 2001 in Paris. Nach ihrem Literaturstudium an der Sorbonne arbeitete sie als Lehrerin für Englisch und ab 2009 als Dolmetscherin in der französischen Migrationsbehörde. Nach dem Erscheinen ihres Romans mit dem von Charles Baudelaire entliehenen Titel Erschlagt die Armen! 2011 verlor sie ihre Anstellung.
Es gibt kein Schwarz-Weiß in diesem Roman. Den Flüchtlingen mit ihrer inneren Not stehen die Beamten der Asylbehörde gegenüber, die versuchen, Distanz zu halten. Für die Dolmetscherin "in ihrer Zwischenstellung im Niemandsland der Sprachen, Kategorien und Weltverständnisse", so die Jury, gibt es keinen guten Weg: Ihre bengalischen, vor allem männlichen Landsleute erwarten, dass sie für sie lügt und beschönigt. Sie verweigert sich diesen paternalistischen Ansprüchen wie auch der fremdenfeindlichen Paranoia, die in der Behörde grassiert.
Kraftvolle Übersetzung von Lena Müller
Für dieses Drama unauflösbarer Verwicklungen findet Sinha eine ebenso wütende wie poetische und präzise Sprache. Im Buch und auch bei der Auszeichnung geht es in erster Linie um die Sprache und darum, das Versagen von Sprache vor der Wirklichkeit in Worte zu fassen. Die Übersetzerin Lena Müller hat "die raue Prosa Sinhas mit ihren ungebärdigen, die Wirkmacht der Sprache auslotenden poetischen Widerhaken kraftvoll ins Deutsche gebracht", urteilt die Jury.
Auf der diesjährigen Shortlist stand mit Alexander Ilitschewskis Roman "Der Perser" in der deutschen Fassung von Andreas Tretner einer der renommiertesten Übersetzer ins Deutsche. Auch der von Thomas Brückner übersetzte Roman "Double Negative" des Südafrikaners Ivan Vladislavićs gehörte zu den wichtigen Entdeckungen auf der Liste. Sinha, die bisher mehrere Romane sowie Gedichtbände auf Französisch und Bengali veröffentlichte und für Erschlagt die Armen! in Frankreich mehrfach ausgezeichnet wurde, war bis zum Erscheinen ihres Buches im August 2015 in Deutschland kaum bekannt. Jetzt hat sich ihr Buch dank seiner kraftvollen, poetischen Sprache gegen starke Konkurrenz behauptet. Den mit insgesamt 35.000 Euro dotierten Preis, den das Haus der Kulturen der Welt zusammen mit der Stiftung Elementarteilchen vergibt, teilen sich Shumona Sinha und Lena Müller. Überreicht wird er am 25.06.2016 im Rahmen eines Fests "Ausweitung der Lesezone" im Haus der Kulturen der Welt in Berlin, zu dem alle Shortlist-Autoren und ihre Übersetzer erwartet werden.
Shumona Sinha: Erschlagt die Armen!, Edition Nautilus 2015, 128 Seiten