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Ein Staatschef wird exhumiert

Kersten Knipp4. Dezember 2013

Erstmals wird in Brasilien ein ehemaliger Präsident exhumiert. Es soll geklärt werden, ob João Goulart eines natürlichen Todes starb. Mit der Analyse setzt Brasilien die Aufarbeitung der Militärdiktatur fort.

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Joao Goulart. Datum unbekannt (Foto Getty Images)
Bild: Getty Images

Der eilends herbeigerufene Arzt war ratlos. "Todesursache: Krankheit", schrieb er auf den Totenschein. An welcher Krankheit genau der Patient gestorben war, mochte oder konnte er nicht sagen. Für die Repräsentanten der brasilianischen Militärdiktatur hingegen war die Sache klar. Sie erklärten, João Goulart, der letzte demokratisch legitimierte Präsident Brasiliens vor dem Putsch der Militärs im März 1964, sei am 6. Dezember 1976 einem Herzversagen erlegen.

Nicht nur die Familie Goulart zweifelt an dieser Version des Geschehens. Im Laufe der Zeit entstanden mehrere Bücher über die Hintergründe von Goularts Tod. Um endgültige Gewissheit zu erhalten, entschied im Mai 2013 die ein halbes Jahr zuvor gegründete Nationale Wahrheitskommission (Commisão Nacional da Verdade), die sterblichen Überreste Goularts exhumieren und gerichtsmedizinisch untersuchen zu lassen. Anfang November machten sich die Forensiker an die Arbeit.

"Wir verstehen die Exhumierung meines Vaters nicht nur als Beitrag zu Aufklärung seines persönlichen Schicksals, sondern auch als Auseinandersetzung mit jener Zeit ganz allgemein", erklärt João Vicente Goulart, der Sohn des früheren Präsidenten und Leiter des Instituto Goulart, im Gespräch mit der Deutschen Welle. Er und die anderen Angehörigen haben seit langem den Verdacht, João Goulart sei einem Anschlag zum Opfer gefallen.

Kurz vor Öffnung des Grabes gedenken die Forensiker des verstorbenen Politikers (Foto: AFP/Getty Images)
Schweigeminute: Kurz vor Öffnung des Grabes gedenken die Forensiker des verstorbenen PräsidentenBild: Jefferson Bernardes/AFP/Getty Images

Indizien für Verwicklung der Geheimdienste

Bis heute ist die Todesursache nicht eindeutig geklärt. Zwar lebte "Jango", wie Goulart von den Brasilianern bis heute genannt wird, im argentinischen Exil, also scheinbar außerhalb der Reichweite der brasilianischen Militärs. Doch hatten in Argentinien im März 1976 ebenfalls die Generäle geputscht und eine rechte Diktatur installiert. Seitdem steht der Verdacht im Raum, Goulart sei ermordet worden - und zwar von Agenten der "Operation Condor", eines Zusammenschlusses der Geheimdienste der Länder Argentinien, Chile, Paraguay, Uruguay, Bolivien und Brasilien. Wie Brasilien und Argentinien wurden auch die vier übrigen Länder damals von rechten Militärs regiert.

Neue Nahrung erhielten die Zweifel im Jahr 2006. Mario Barreiro Neira, ein ehemaliger, wegen Drogenschmuggels in Brasilien verhafteter Mitarbeiter des uruguayischen Geheimdienstes, erklärte, er habe dabei geholfen, Goulart durch vergiftete Tabletten zu ermorden. Beweise blieb der Ex-Agent zwar schuldig. Doch zumindest seine Behauptung, er habe Goulart in seinem argentinischen Exil über Jahre hinweg observiert, gilt aufgrund seiner umfassenden und detaillierten Erklärungen für viele Experten als plausibel. Vom brasilianischen Geheimdienst zwischenzeitlich freigegebene Fotos beweisen, dass Goulart tatsächlich observiert wurde.

Fahnungsplakate aus der Zeit der Militärdiktatur, hier gezeigt in einer Ausstellung in Brasília, 2006. (Foto: AP)
Fahnungsplakate aus der Zeit der Militärdiktatur, hier gezeigt in einer Ausstellung in BrasíliaBild: AP

Späte Aufarbeitung der Diktatur

Die Aufarbeitung der während der Militärdiktatur begangenen Verbrechen kam in Brasilien nur zögerlich in Gang. Das habe konkrete Gründe, erläutert Maurice Politi, Direktor von Núcleo Memória, einem Zusammenschluss ehemaliger politischer Häftlinge und politisch Verfolgter, im Gespräch mit der DW. Im Unterschied zu anderen Ländern der Region habe das brasilianische Militär die Diktatur selbst beendet. Darum hätten die Eliten des Landes eine umfassende Amnestie erlassen, die für alle gelten sollte: für die Opfer der Diktatur ebenso wie für jene, die die Verbrechen zu verantworten hatten. "Das Anliegen des Militärs war es, das Land zu befrieden und zugleich die alte Macht zu erhalten. Darum breitete sie den Mantel des Schweigens über die Epoche", erklärt Politi. Und darum erklärt João Vicente Goulart, liege ihm bei der Exhumierung der Leiche seines Vaters eines ganz besonders am Herzen: "Wir wollen, dass die Diktatur nicht mehr aus der Perspektive der Militärs dargestellt wird."

Früher Reformer

Der 1919 geborene Goulart hatte sich während seiner Amtszeit vorgenommen, die sozialen Verhältnisse seines Landes umfassend zu verändern. So wollte er etwa ungenutzten Großgrundbesitz enteignen und Kleinbauern zur Verfügung stellen. Ebenso wollte er die Möglichkeiten internationaler Unternehmen beschränken, Gewinne ins Ausland zu überweisen.

Die Militärs witterten hinter Goularts Plänen eine kommunistische Verschwörung. Tatsächlich aber, so João Vincente Goulart, habe sein Vater das Land nach Maßstäben reformieren wollen, die heute längst selbstverständlich seien. "Wenn wir jetzt also seine Leiche exhumieren, holen wir zugleich auch die politischen Forderungen zurück, die vor 50 Jahren gestellt wurden und dann einem Staatsstreich zum Opfer fielen", sagt Goulart.

Urteil der Geschichte

Zumindest symbolisch hat Brasilien die Regierung Goulart nun wieder ins Recht gesetzt: Ende November (20.11.2013) beschloss der Nationalkongress, seine Sitzung vom 2.4.1964 für ungültig zu erklären. An jenem Tag hatten die damaligen Kongress-Mitglieder João Goulart für abgesetzt erklärt. An den politischen Folgen dieses Tages ändere der Entschluss nichts, erklärt der Kongressabgeordnete Pedro Simon, der bereits die Sitzung des 1964 persönlich miterlebt hatte. Aber er gebe ihnen eine neue Deutung. "Wir werden die Fakten nicht ändern. Die Geschichte wird nun darüber urteilen, ob der Kongress an jenem Tag auf dumme und lächerliche Weise den Willen der Bevölkerung missachtete, indem er den Präsidenten der Republik stürzte."

Demonstranten in Belem protestieren gegen soziale Missstände, 17.6. 2013
"Rebele-Se": Demonstranten protestieren im Sommer 2013 gegen soziale MissständeBild: Reuters/Paulo Santos