"Ein schlauer Präsident"
13. August 2004Zur Zusammensetzung der neuen EU-Kommission durch den designierten Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso meint die niederländische konservative Zeitung "Telegraaf" am Freitag (13.8.2004): "Die Sorge der kleineren EU-Länder, dass Barroso auf die Wünsche nur der großen Länder hören würde, sind vertrieben worden. Zugleich aber brauchen auch die großen Länder nicht den Eindruck zu gewinnen, dass sie allzu viel abgeben mussten. Zudem hat es den Anschein, dass Barroso beim Zusammenstellen seiner Europäischen Kommission vor allem durch die Brille des Wirtschaftsreformers geblickt hat. Das ist auch gut so, denn die EU kann einen Impuls sehr wohl gebrauchen, um aus den chronisch niedrigen Wachstumszahlen heraus zu kommen. Mit der Bildung eines ganz neuen Kommissariats, das sich um die Kommunikationsstrategie kümmern soll, hat er seine zweite Priorität betont - bei den Europäern die Apathie gegenüber allem, was mit der EU zu tun hat, zu durchbrechen."
Die linksliberale britische Zeitung "Independent" schreibt zu Barrosos Plänen: "Die größte Überraschung war, dass Barroso die Macht über die Ressorts Wettbewerb und Binnenmarkt an die Niederlande beziehungsweise Irland vergab. Beides sind Gebiete, auf denen die Franzosen und Deutschen wiederholt mit der scheidenden Kommission aneinander gerieten, um ihre eigenen nationalen Interessen durchzusetzen. Dies war Barrosos mutigste Demonstration für die Unabhängigkeit, die so wichtig für seine neue Aufgabe ist, und deshalb beruhigend. Wenn seine erste Handlung den Ton für den Rest seiner Präsidentschaft bestimmt, wird es schwierig werden, ihn herumzuschubsen, und er wird die für seine Position entscheidende Neutralität sichern können. Jeder, der wahrhaftig die Interessen Europas im Sinn hat, wird dies herzlich willkommen heißen."
Das Pariser Wirtschaftsblatt "La Tribune" sieht Deutschland und Frankreich in der künftigen EU-Kommission geschwächt: "Das deutsch-französische Paar, gestern noch in einer Position der Stärke, wird in der Kommission Barroso Nebenrollen spielen. Rache der 'kleinen Länder' an den wirtschaftlichen Lokomotiven Europas? Da Frankreich und Deutschland es nicht immer geschafft haben, die Union in einen Aufbauprozess zu ziehen, ist nicht sicher, ob diese neue Lage wirklich schädlich für die Gemeinschaft ist. Waren sie nicht die ersten, die bei den Haushaltsdefiziten den abgesteckten Rahmen verlassen haben? Dies ist jedenfalls ein Argument jener, die unterstreichen werden, dass Paris und Berlin, die die Macht der Kommission begrenzen wollten, um die Macht der Staaten zu erhalten, ihre Strategie gegen sich selbst gerichtet sehen."
Die römische Zeitung "La Repubblica" schreibt am Freitag: "Es ist zu früh zu sagen, ob Barroso, der Nachfolger von Romano Prodi an der Spitze der EU-Kommission, ein großer Präsident sein wird. Aber ganz sicher ist er ein schlauer Präsident. Die Aufgabenverteilung zwischen den 24 Kommissaren, die er nun früher als erwartet bekannt gab, zeigt eine große Fähigkeit, das geographische Gleichgewicht innerhalb der Union zu wahren, die Ambitionen der verschiedenen Regierungen zu dosieren, indem er alle ein wenig zufrieden stellt und niemanden unzufrieden macht. (...) Er vermied auch die Falle Frankreichs, Deutschlands und Großbritanniens, die auf die Einrichtung eines 'Super-Kommissars' gedrängt hatten."
Die belgische Tageszeitung "De Morgen" aus Brüssel schreibt über Barroso und dessen Vorstellungen über sein vorgestelltes Team: "Teamarbeit solle es werden, und kein Kommissar solle gleicher sein als die anderen. (...) Die Praxis muss das erweisen, aber schon jetzt scheint Günter Verheugen nach Barroso der unanfechtbar starke Mann in der Kommission zu sein. Der Deutsche bekommt den Posten für Industrie. Das erscheint weniger als erhofft, zumal Berlin den nachdrücklichen Wunsch äußerte, dass Verheugen Industrie und Wirtschaft kriegen sollte. Barroso löste das mit einem Kunstgriff: Er benannte den deutschen Sozialdemokraten auch zum Koordinator der Gruppe von Kommissaren für die Wettbewerbfähigkeit. Auf diese Weise wird er eine Art Schattenkommissar für die Niederländerin Neelie Kroes, die mit dem Ressort Wettbewerbspolitik einen ziemlich großen Fisch an die Angel bekam."