Ein Roman wie ein russischer Wald
21. Juni 2011"Von hier oben sieht man alles so klar", erklärt Michail Schischkin und blickt auf Zürich. Seine stahlblauen Augen gleiten über die Stadt, die klein und verschlafen wirkt. Hier, ganz in der Nähe einer Anhöhe, lebt er nun seit über 15 Jahren. Der Liebe wegen verließ er einst Moskau und kam an den Limmat. Freunde, Familie ließ er in Russland zurück und tauchte ein in das Fremde.
"Es war am Anfang überhaupt nicht einfach Fuß zu fassen" sagt Schischkin. Sein perfektes Deutsch ist durchdrungen von einer russischen Färbung. "Als Schriftsteller braucht man Spannungen und Konflikte, die es in Russland an jeder Ecke gibt. Die Schweiz schien mir dagegen so langweilig, so ruhig zu sein. Worüber sollte ich also schreiben?"
Das Leid der Anderen
Ganz unerwartet kamen die Geschichten zu Michail Schischkin. Er begann als Dolmetscher für die Einwanderungsbehörde zu arbeiten. Fortan wurde er zum Übersetzer des Grauens, lauschte Flüchtlingen und ihren erschütternden Erlebnissen. Von diesen Begegnungen erzählt der 50-Jährige auch in "Venushaar".
"Die Befragungen beginnen morgens um acht. Alle sind noch verschlafen, zerknittert, mürrisch – die Beamten ebenso wie die Dolmetscher, die Polizisten und die Asylanten. Die, die erst noch Asylant werden wollen, genauer gesagt. Einstweilen sind sie bloß GS, Gesuchsteller. So heißen diese Menschen hier."
"Wenn eine Frau erzählt, wie ihrem Sohn die Nägel ausgerissen wurden oder eine andere berichtet, wie man sie vergewaltigt hat, dann hinterlässt das Wunden. Ganz klar", erinnert sich Schischkin und sein Blick schweift ab. Das alles könne man nicht vergessen. "Man muss abstumpfen, sich eine dicke Haut anlegen, sonst geht man kaputt". Er entschied sich dafür, alles aufzuschreiben.
Wort für Wort hat er jene Grausamkeiten gebannt und doch einen Schwebezustand erschaffen. Was ist wahr und was erfunden? In seinem Roman verschwimmen die Grenzen. Die Flüchtlingsschicksale gleiten über in antike Schlachtberichte, in fiktive Tagebuchaufzeichnungen einer russischen Sängerin. Aus Gestern und Heute, aus Erdachtem und Erlebtem entsteht ein literarisches Mosaik Russlands – vielstimmig und fein schimmernd. Nur, wie übersetzt man das?
Mit Sprache die Welt neu erschaffen
"Dieses Buch ist wie ein tiefer, russischer Wald. Man muss aufpassen, dass man sich nicht darin verläuft oder stolpert", meint Andreas Tretner. Genau das mache aber auch seinen Reiz aus. Nicht umsonst laute der Titel "Venushaar". "Eine Farn-Art, die alles überwuchert und überall seine Sporen verstreut", so der erfahrene Übersetzer. Dieser Pflanze gleich entfalte sich auch der Roman. Ein dichtes Textgeflecht, gewebt aus unzähligen Geschichten und Schicksalen. Andreas Tretner hat diesen Mammut-Roman und damit erstmals ein Schischkin-Werk ins Deutsche übersetzt.
Zwei auf Augenhöhe
"Michail ist einer der renommiertesten Autoren Russlands. Er ist mit den wichtigsten Literaturpreisen seiner Heimat geehrt worden. Nur hierzulande kannte man ihn kaum", erklärt er mit Verwunderung. Dabei reizte ihn als Übersetzer vor allem die sprachliche Virtuosität. "Dieser Roman behauptet, dass man die Welt mit Sprache neu erschaffen kann", sagt Tretner begeistert und liest eine seiner Lieblingspassagen aus "Venushaar" vor.
"Aus dem Nichts, aus der Leere des Raumes, aus dem grauen Putz, aus einer Fläche Schnee, aus dem weißen Blatt Papier tauchen plötzlich Menschen hervor, erstehen lebendigen Leibes, und dies, um für immer zu bleiben."
Die eigene Sprache ausloten und trotzdem den Klang des Originals treffen – für Andreas Tretner die Essenz einer guten Übersetzung und zugleich die größte Herausforderung. Seit mehr als 25 Jahren überträgt er zeitgenössische Literatur aus dem Russischen ins Deutsche. Die wenigsten seiner Autoren können Deutsch. Michail Schischkin, ein zweisprachiger Schriftsteller, noch dazu ein Berufskollege, war da eine Ausnahme. "Er war dabei und hat tatsächlich jeden Satz, den ich versucht habe zu übersetzen, gelesen und hatte eine Meinung dazu." Wie eng die Zusammenarbeit war und welch großes Vertrauen Autor und Übersetzer verbindet, merkt man bei gemeinsamen Lesungen.
Während Michail Schischkin mit seiner markanten Stimme den russischen Text vorträgt, geht Andreas Tretner leise, den deutschen Text für sich lesend Zeile für Zeile mit. "Ich wusste, dass ich ab einem gewissen Punkt, meinen russischen Text, vollkommen in Andreas Hände geben muss, damit er ihn im Deutschen zum Leuchten bringen kann", sagt Michail Schischkin. "Es gab Passagen und Wortspiele, die schienen mir unübersetzbar. Aber Andreas hat nie aufgegeben."
Es ist diese Hartnäckigkeit, dieses Ringen um Worte, das Michail Schischkin und Andreas Tretner verbindet. Nun erhalten sie gemeinsam den Internationalen Literaturpreis 2011. Für ein vielschichtiges Werk und seine ungebrochene Wucht im Deutschen.
Autorin: Aygül Cizmecioglu
Redaktion: Marlis Schaum