Mit Wölfen leben?
11. November 2016"Ein Hirtenjunge hütete jeden Tag die Schafe. Morgens holte er die Tiere von ihren Besitzern ab und trieb sie zum Hügel über dem Dorf, wo die Schafe grasen konnten. Am Abend brachte er sie gewissenhaft zurück ins Dorf. Manchmal langweilte sich der Hirtenjunge, schließlich sah er den ganzen Tag nur Schafe, Schafe, Schafe. So wollte er sich eines Tages einen Spaß erlauben und rief: »Der Wolf! Der Wolf! Der Wolf will sich ein Schaf holen!"
Mit diesen Worten beginnt Äsops Fabel "Der Hirtenjunge und der Wolf", die tragisch für die Schafe endet und Isegrim einen vollen Bauch beschert. Eine Warnung, keine Lügen zu erzählen, sollte die Geschichte sein. Und eventuell hat sie tatsächlich den ein oder anderen Schwindler vom Verdrehen der Wahrheit abgehalten. Aber zusammen mit vielen anderen Geschichten, Gedichten, Liedern und Cartoons hat sie vor allem unsere Sicht auf den Wolf beeinflusst und den Tieren Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte der Verfolgung und Abscheu eingebrockt.
Wölfe galten im Herzen Europas schon vor mehr als 100 Jahren als ausgestorben. Erst vor wenigen Jahren sind die Tiere langsam wieder zurückgekehrt, unter anderem nach Deutschland, Frankreich und in die Schweiz. Willkommen sind sie hier nicht unbedingt.
Für Gabriel Schwaderer von der EuroNatur Stiftung grenzt die Angst vor dem Wiedererscheinen des grauen Wolfs an Hysterie. Und die sei unnötig. Sie sei eine Erscheinung unserer heutigen Zeit. "Wir wissen überhaupt nichts mehr über das Verhalten dieser Tiere. Die meisten Menschen denken, sie seien schrecklich gefährlich", sagte er. Er betrachte Wölfe nicht als eine "wirkliche Bedrohung", ergänzt er. Jedenfalls nicht größer als durch ihre domestizierten Cousins, mit denen wir unsere Häuser teilen.
"Jedes Jahr werden in Deutschland Kinder von Hunden getötet. Und trotzdem gibt es keinen Aufschrei, jetzt deshalb Hunde umzubringen." Das Argument der Gegenseite zielt auf die Anzahl der Tiere. Es gäbe wesentlich mehr Hunde als Wölfe im Land. Die Situation könne ganz anders aussehen, wenn es genauso viele Wölfe wie Hunde gäbe.
Das ist allerdings sehr unwahrscheinlich, weil Canis Lupus, auch wenn er ein Comeback macht, sehr genau beobachtet und gezählt wird.
Einbruch der Zahlen
Vermutlich gibt das nirgendwo mehr Wölfe als in Finnland. Das Land hat gerade angekündigt, die Tiere weiterhin kontrolliert zu töten. Knapp 200 dieser Tiere ziehen derzeit durch finnische Wälder. Umweltschützer haben umgehend gegen diese Ankündigung protestiert. Sie weisen darauf hin, dass der Wolf durch die Rechtssprechung der Europäischen Union geschützt ist.
Sami Niemi, ein Berater des finnischen Ministeriums für Land- und Forstwirtschaft widerspricht. Sein Argument scheint im ersten Moment nicht logisch. Der kontrollierte Abschuss, sagt er, sei bislang der effektivste Weg, um den Wölfen zu helfen, sich von einem Zusammenbrechen der Population zu erholen, das es nach verschärften Jagdvorschriften im Jahr 2006 gegeben habe.
Finnland hatte vor der Verabschiedung des Gesetzes etwa 30 Wolfsrudel. "Bis 2010 hatten wir nur noch zehn", sagt Niemi. Das entspricht 120 Tieren, die sich das Land mit 1500 Bären und 3000 Luchsen teilen. Ein auffallend niedriger Wert.
Das Problem, sagt er, liegt vermutlich darin, dass Wölfe nicht gut gelitten sind, überall in Europa. Natürlich wurde der Wolf auch in Finnland als Plage gesehen, zumal eine gefährliche. Als den Leuten 2006 also gesagt wurde, dass sie sich gegen die Plage nicht mehr wehren durften, hatten sie das Gefühl, nicht mehr für ihre Sicherheit sorgen zu können.
"Das hat die Menschen außerhalb der Städte frustriert und im Umkehrschluss viel mehr Wölfen das Leben gekostet als vorher", so Niemi. "Damit ist die Population dann kollabiert."
Immer neue Versuche einer Veränderung
Die Regierung versuchte es daraufhin mit immer drastischeren Strafen. Wer gegen das Gesetz verstieß, bekam Geldstrafen von bis zu 9000 Euro aufgebrummt oder musste sogar ins Gefängnis. "Wenn jemand erwischt wurde, der illegal eines der Raubtiere schoss, der konnte für vier Monate bis vier Jahre hinter Gitter kommen." Geändert haben diese Strafen nichts. Die Zahl der Wölfe sank weiter und pendelte für einige Jahre um 110 Tiere. Aus diesem Grund entschied sich das zuständige Ministerium für einen radikalen Schritt.
"Wir haben zwei Jahre lang Erfahrungen gesammelt, in denen wir mehr Lizenzen zum Abschuss jüngerer Tiere ausgegeben haben", so Niemi weiter. "Es geht nicht darum, Alpha-Tiere zu töten, schließlich wollen wir die Rudel überlebensfähig halten. Wir nehmen aber auch die Ängste und Sorgen der Menschen ernst." Das sind Ängste um die eigene Unversehrtheit, aber auch um die der Nutztiere.
Weil sie die Kontrolle teilweise zurück in die Hände der Menschen gegeben hätten, seien die illegalen Abschüsse zurückgegangen, sagt Niemi. Deshalb sieht er die kontrollierte Jagd als Lösung für den "sozialen Konflikt", der mit dem Wachstum der Wolfspopulation in dem nordischen Landes einhergeht.
Zusammenleben
Selbst, wenn diese Strategie erfolgreich ist, es bleiben genug Fragen offen. Gabriel Schwaderer sagt, dass die Gesellschaft und die Bauern ihre Sicht auf den Wolf ändern müssen. Es geht eben nicht darum, einfach loszugehen und die Tiere abzuschießen. "Es gibt keine wissenschaftlichen Beweise dafür, dass die Jagd nach Wölfen Schäden verhindert", sagt er und ergänzt, dass es sinnvoller sei, sich auf ein Leben mit den Tieren einzulassen. "Sie sind opportunistische Tiere. Wenn sie umsonst Mittagessen bekommen, werden sie es nehmen."
Hinter dieser Aussage steckt ein neuer Ansatz in der Schafzucht. Schäfer lassen ihre Herden demnach für einige Tage unbeaufsichtigt und öffnen den Wölfen die Tür, sich hin und wieder zu bedienen. Außerdem spricht sich Schwaderer für die Verwendung von Elektrozäunen und Wachhunden aus. Für diese könnten Landwirte staatliche Förderungen beantragen. Außerdem hofft er auf eine Rückkehr zu den alten Traditionen, in denen es für einen Hirten üblich war, bei seinen Tieren zu sitzen. Allerdings wohl nicht auf die gleiche Weise wie in Aesops Fabel.