Ein Leben an der Besatzungslinie
8. August 2018Als Ilya Bervashvili hinaus auf seine Getreidefelder tritt, bewegt sich der blaue Kreis auf der Karte seiner App hinter die gestrichelte Linie. Aber niemand sollte einer App trauen, wenn es um diese Grenze geht. Die Dinge sind nämlich viel komplizierter, als sie auf Google Maps erscheinen.
Der Landwirt zeigt auf das grüne Schild, das genau auf seinem Land steht. Es markiert die "Staatsgrenze" zwischen dem von Georgien kontrollierten Gebiet und der Region Südossetien. Sie wird weltweit nur von fünf Ländern als souveräner Staat anerkannt. Eines der Länder ist Russland, das Südossetien unterstützt und verteidigt. Georgien sieht die Grenze eher als "Besatzungslinie". An vielen Stellen ist die Grenze allerdings nicht markiert - und es ist bekannt, dass sie sich bewegt. Hier im Dorf Ditsi gibt es lediglich einen kleinen grünen Grenzzaun. Auf beiden Seiten des Zauns ist - nichts.
"Sie sind direkt hinter meinem Land", sagt Ilya und bezieht sich auf die russischen Grenzschützer. Sie patrouillieren an seinen Feldern entlang, direkt am Schild vorbei. "Ich arbeite den ganzen Weg entlang bis zum Rand meines Landes. Sie stören mich nicht und ich störe sie nicht. Aber sie patrouillieren hinter meinem Land." Er rückt seine Mütze aus Segeltuch zurecht. "Wenn sie 'Hallo' sagen und mit mir sprechen, antworte ich ihnen."
Die wandernde Grenze verschluckt Land
Ilya hat früher für die georgische Polizei gearbeitet, seit 15 Jahren ist er Landwirt. Neben Getreide baut er Birnen, Nüsse, Weintrauben und Himbeeren an. Hühner laufen über den Hof seines Steinhauses. Das Land gehört der Familie seit Generationen. Die bewegliche Grenze zu Südossetien hat bereits einen Teil seines Eigentums verschluckt. Aber es ist der psychologische Druck durch den Krieg, der ihn viel mehr belastet.
Im August 2008 eskalierten die Spannungen zwischen Russland und Georgien. Es ging um die abgespalteten Regionen Abchasien und Südossetien. Als Georgien die Kontrolle über Zchinwali übernahm, die Hauptstadt von Südossetien, antwortete Russland mit Panzern und Angriffen aus der Luft - und argumentierte, dass es um den Schutz der russischen Bevölkerung in der Region ginge.
"Ich war zu Hause. Ich habe von hier aus zugeschaut. Es war nicht einfach, zu beobachten was passiert, weil sie alles um uns herum bombardiert haben", erklärt Ilya. Sechs Granaten seien auf eines seiner Felder geflogen. "Und man kann immer noch sehen, wo die Granatsplitter den Pfosten dort drüben getroffen haben." Er zeigt auf einen Strommast.
Angst vor Gefängnis und Geldstrafen
Ilyas Mutter, Venera Edisherashvili, beugt sich über die Veranda vor dem Haus. Sie sitzt auf einem Holzstuhl und ruht sich aus. Die 84-Jährige erzählt, dass einer ihrer drei Söhne in diesem Krieg getötet wurde. "Nachts kann ich manchmal nicht schlafen, weil ich Angst um meinen Sohn habe. Ich habe Angst, dass sie kommen."
Ilya hingegen verfolgt eher die potenzielle Gefahr der Grenzlinie zu Südossetien. "Man kann die Spannung die ganze Zeit über spüren. Wenn man die Linie überquert, dann können sie dich packen, dir eine Geldstrafe aufbrummen, dich ins Gefängnis stecken. Wenn unsere Tiere die Grenze überqueren, dann können sie sie nehmen. Sie laufen hier herum und sagen, was wohin gehört. Sie laufen mit Hunden und Waffen herum - das versetzt dich natürlich in einen bestimmten psychologischen Zustand."
Situation genau beobachten
Auf der einen Seite stufen Beobachter die umstrittene Linie als relativ stabil ein. Erik Høeg ist der Vorsitzende der EU-Beobachtermission in Georgien. Er beschreibt die De-Facto-Grenze an vielen Stellen als "verhärtet", mehr und mehr Zäune entstehen. Dieser Prozess verkleinert in manchen Fällen das Land der Menschen, trennt Familien und schränkt ihre Bewegungsfreiheit ein.
Høeg erklärt, dass die Situation "relativ stabil" sei - in dem Sinne, dass niemand an der Verwaltungsgrenze schießt. Den Begriff der sogenannten "Administrative Boundary Line" benutzt die Europäische Union, um die Grenze zwischen den von Georgien kontrollierten Gebieten und den abtrünnigen Regionen zu beschreiben.
Aber: Allein der Fakt, dass sich eine große Zahl bewaffneter Personen ziemlich nah an der Verwaltungsgrenze befinde, sei Grund genug, um die Situation gut zu beobachten, sagt Høeg. "Vor allem, wenn es kein gemeinschaftliches Abkommen gibt, wo die Grenze verläuft. In diesen Gebieten gibt es viele Unsicherheiten. Deshalb sind wir mit 200 Beobachtern rund um die Uhr vor Ort."
Die EU-Mission patrouilliert hier seit 2008 und betreibt auch eine Telefon-Hotline, an die sich Leute von beiden Seiten des Konflikts wenden können, wenn sie Zwischenfälle beobachten. So gab es im vergangenen Jahr mehr als 150 Festnahmen entlang der Grenze, wie die EU-Beobachter berichten.
Von kalten Konflikt zum Krisenherd?
Lado Bitshashvili arbeitet in der Zweigstelle der Nichtregierungsorganisation "Human Rights Center" in der georgischen Stadt Gori. Auch nach zehn Jahren müssen alle Konfliktparteien weiterhin vorsichtig vorgehen, ist er überzeugt: "Nur ein Zwischenfall kann dazu führen, dass dieser eingefrorene Konflikt wieder zu einem Krisenherd wird. Es ist sehr wichtig, dass alle Seiten darauf achten, dass die Zwischenfälle, die stattfinden, nicht eskalieren."
Unterdessen sind in Ditsi Ilya und seine Mutter Venera bereit, sich zu behaupten. "Mein Sohn und ich sind unbezahlte Grenzwachen", sagt Venera und lacht. Sie habe die Telefonnummer der EU parat, sollte sich etwas an der Grenze tun, scherzt sie.
Ilya ist genauso entschlossen. "Das ist mein Stück Georgien. Das ist mein Teil meiner Heimat", sagt er. "Ich werde nicht einen Schritt für irgendjemanden machen. Solange ich lebe, werden die Stiefel der russischen Soldaten diesen Boden nicht berühren."
Ein bisschen Hoffnung
Obwohl viele Unsicherheiten, die der Krieg mit sich brachte, weiter bestehen: Es gibt einen kleinen Hinweis, dass sich die Dinge in Ditsi vorwärts bewegen. Wegen des Konflikts wurde die Wasserversorgung der Stadt unterbrochen, die aus Südossetien kam. Aber vor drei Jahren leiteten die Behörden das Wasser aus einem Fluss in der Nähe in die Stadt. Vor einem Monat wurden nun neue Metallleitungen gelegt, damit das Wasser direkt zu den Bauernhöfen der Menschen kommen kann.
Auch durch Ilyas Feld fließt ein kleiner Bach. "Bald sind die Himbeeren reif", sagt der Landwirt.