Syrien in der Sackgasse
22. Dezember 2012Ein überschwemmtes Zelt, eine nasse Matratze und keine Möglichkeit, sich zu wärmen: In den provisorischen Flüchtlingslagern im türkisch-syrischen Grenzgebiet ist der Winter eingebrochen. Die Nächte sind bitterkalt, es gibt nicht genügend Decken – doch viele Syrer, die hier untergekommen sind, haben weitaus Schlimmeres erlebt. Sie sind auf der Flucht vor den Kämpfen im eigenen Land, vor den Kämpfen zwischen Regierungstruppen und Rebellen, die sich immer weiter ausdehnen. "Die Kämpfe in Syrien bewegen sich von einem Ort zum anderen", sagt Ruth Jüttner, Nahost-Expertin der Nichtregierungsorganisation Amnesty International. "Viele Syrer, denen wir begegnet sind, haben uns berichtet, dass sie gleich mehrere Male fliehen mussten."
Millionen Menschen auf der Flucht
Täglich fliehen Tausende Syrer ins Nachbarland Türkei, aber auch in den Irak, in den Libanon oder nach Jordanien. Ein Ende des Bürgerkriegs ist nicht in Sicht. Den Vereinten Nationen zufolge werden die verschiedenen aufständischen Gruppierungen in Syrien zwar immer stärker. Für einen entscheidenden Schlag gegen das Regime hat es bislang aber nicht gereicht. Die Truppen von Staatspräsident Baschar al-Assad gehen gewaltsam gegen die Aufständischen vor – ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung. Welche Seite die Oberhand hat, ist unklar. Fest steht: Die Lage im Land bleibt unübersichtlich.
Das liegt auch daran, dass die Regierung, aber auch Teile der Opposition wenig Interesse an unabhängiger Berichterstattung haben. Cengiz Günay spricht sogar von einem "Propaganda-Krieg". "Immer wieder wird von einem 'alawitischen' Regime gesprochen", hat der Nahost-Experte am Österreichischen Institut für Internationale Politik beobachtet. "Dabei sind die Grenzen innerhalb der syrischen Gesellschaft nicht so einfach zu ziehen." Wegen der Konfessionalisierung des Konflikts sähen viele Alawiten mittlerweile keinen anderen Ausweg, als am Assad-Regime festzuhalten, meint Günay. "Sie fürchten um ihr Leben, wenn das Regime stürzt."
Minderheiten zwischen den Fronten
Wie die Alawiten sind viele Bevölkerungsgruppen zwischen die Fronten geraten. Die religiösen Minderheiten in Syrien leiden unter den zunehmenden Attacken radikaler Moslems. Deshalb unterstützen viele von denen, die einer Minderheit angehören, nicht die Opposition, sondern halten weiterhin zum Regime. Auch vom Militär und von seinem weitgehend intakten Machtapparat erhält Baschar al-Assad nach wie vor Unterstützung. Nicht eindeutig dagegen ist die Haltung der kurdischen Bevölkerungsgruppe. Sie kontrolliert mittlerweile den Nordosten des Landes, kooperiert aber möglicherweise mit dem syrischen Präsidenten.
Assad profitiert nicht nur von der Unterstützung seiner Anhänger, sondern auch davon, dass die syrische Opposition völlig zersplittert ist. Die Moslembruderschaft zum Beispiel stand schon immer in Opposition zum Regime, konkurriert mittlerweile aber mit den noch radikaleren Salafisten. Säkulare, linke und nationalistische Gruppen stehen dem syrischen Regime ebenfalls schon seit langem gegenüber, vertreten aber völlig andere Interessen als die Islamisten. Zur syrischen Opposition zählen sich weiterhin Soldaten, die in den vergangenen Monaten die Seite gewechselt haben und zur Freien Syrischen Armee übergelaufen sind. Hinzu kommen zahlreiche Syrer, die schon seit Jahren im Exil leben. Sie alle wollen den Sturz des Regimes, haben aber unterschiedliche Ziele für die Zeit danach.
Einmischung regionaler Mächte
"Die Komplexität des syrischen Konflikts liegt auch darin, dass sehr viele externe Akteure mitmischen", sagt Cengiz Günay. "Die islamistischen Milizen zum Beispiel werden von konservativem Kapital aus den Golfstaaten unterstützt." Rückendeckung für das Regime kommt dagegen vor allem aus Russland, aus dem Iran und von der libanesischen Hisbollah – auch wenn mittlerweile der Eindruck entsteht, dass sich die Verbündeten auf ein mögliches Ende der Regierung Assad vorbereiten.
Tatsächlich gab es in den vergangenen Wochen immer wieder Anzeichen dafür, dass selbst die syrische Regierung nicht mehr mit einem militärischen Sieg rechnet. So hat zum Beispiel Vizepräsident Faruk Al-Scharaa jüngst für Verhandlungen mit der von Assad verteufelten Exil-Opposition und für die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit geworben. Weiter gehende Schritte gab es bislang nicht. Wie lange der Konflikt noch dauern wird und was danach kommt, ist völlig unklar. Fest steht nur, dass sich die Lage immer weiter zuspitzt - vor allem für die Bevölkerung.
Dramatische Entwicklung
"Die Situation hat sich in den vergangenen Monaten dramatisch verschlechtert", sagt Ruth Jüttner von Amnesty International. "Es mangelt an Lebensmitteln, Medizin und Unterkünften." Mehrere Millionen Menschen befinden sich auf der Flucht – innerhalb Syriens und in den Nachbarländern. Die Vereinten Nationen rechnen damit, dass Mitte des kommenden Jahres vier Millionen Menschen Hilfe brauchen werden. Ingo Radtke, Generalsekretär von Malteser International, zeichnet ebenfalls ein düsteres Bild: "Das ganze Ausmaß der Tragödie wird sich aber erst dann zeigen, wenn die Kriegshandlungen zum Ende kommen", sagt er. Die Flüchtlinge in Syrien und den Nachbarländern brauchen jetzt schon jede Hilfe.