Als Corona nach Deutschland kam
27. Januar 2021Es war am 27. Januar 2020. Unspektakulär noch. Aber das Virus war da: In einer Firma aus Starnberg in Bayern, die enge Kontakte nach China unterhält, wird ein Mitarbeiter positiv auf das neuartige Coronavirus getestet. Seither ist in Deutschland nichts mehr so, wie es mal war.
Auch in Deutschland hören die Menschen in diesem Jahr auf, sich die Hand zu geben, sich zu umarmen. Sie bleiben zu Hause und meiden Kontakte. Neue Vokabeln bestimmen das Alltagsleben: Reproduktionszahl, Inzidenz und Quarantäne; Intensivbettenauslastung, Übersterblichkeit und die AHA-Regeln (Abstand, Hygiene, Alltagsmaske).
Dass das Robert-Koch-Institut in Berlin die oberste Infektionsschutz-Behörde des Landes ist, wissen am 27. Januar 2020 nur Insider, ein Jahr später weiß es das ganze Land. Virologen werden nationale Berühmtheiten, wie Christian Drosten von der Berliner Charité. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) erreicht Top-Zustimmungswerte. Auch, weil er früh erkennt, dass die Pandemie Verlierer und Gewinner haben wird.
Am 23. April sagt Spahn im Bundestag: "Wir werden in ein paar Monaten wahrscheinlich viel einander verzeihen müssen." Jetzt, im Januar 2021, sagte er der DW über den Beginn der Pandemie: "Wir haben das damals schon ernstgenommen und alle unsere Systeme danach ausgerichtet. Aber dass sich daraus all das entwickeln würde, für Deutschland, für Europa, für die Welt in den nächsten zwölf Monaten, das hat, denke ich, keiner so erwartet. Und das hält uns bis heute in Atem."
Mehr als 50.000 Menschen sind bislang in Deutschland im Zusammenhang mit einer Corona-Infektion gestorben. Und noch immer hat das Virus das Land fest im Griff.
Ein erster Toter, ein erster Hotspot
Anfang 2020 scheint das alles in Deutschland noch weit weg. Doch das ändert sich schnell. Am 8. März stirbt erstmals ein Deutscher an den Folgen von COVID-19. Am 10. März gibt es Infektionen in allen 16 Bundesländern. Die Kreisstadt Heinsberg in Nordrhein-Westfalen wird nach einer Karnevalsfeier der erste große Corona-Hotspot in Deutschland. Und am 18. März wendet sich Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Fernsehansprache an das Volk.
Ihre Worte könnten dramatischer nicht sein: "Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst. Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt."
Dramatische Lage, drastische Maßnahmen
Den dramatischen Worten folgen wenige Tage später drastische Maßnahmen, und die Menschen lernen eine neue Vokabel kennen: Lockdown. Restaurants und Kinos werden geschlossen, Schulen und Kitas auch, die Wirtschaft steht fast komplett still.
Der Bundestag beschließt im Eiltempo ein riesiges Hilfspaket für die Wirtschaft in Höhe von 156 Milliarden Euro. Die Corona-Pandemie ist keine Zeit für Sparpläne. Urlaubsreisen werden abgesagt. Viele Menschen machen erste Erfahrungen mit dem Arbeiten von zu Hause aus.
Die Supermärkte bleiben geöffnet, für Menschen mit Masken. Und ein Volk wird zu Hamsterkäufern. Die Menschen beginnen, Lebensmittel zu horten, und ausgerechnet Toilettenpapier wird knapp.
Die Bilder aus den besonders von der Pandemie betroffenen Städten im Norden Italiens treffen die Bundesbürger ins Mark. Zwar kennt noch kaum jemand einen Infizierten oder gar Toten; trotzdem breitet sich die Angst aus, schleichend, immer stärker.
Neue Helden
Neue Helden werden geboren: die Supermarkt-Angestellten, Ärzte und Pfleger in den Krankenhäusern. Die Menschen in Deutschland stellen sich auf ihre Balkone und applaudieren diesen Helden, jeden Abend.
Jetzt, Anfang 2021, sind viele Pfleger aber am Ende ihrer Kraft. Franz Wagner ist Präsident des Deutschen Pflegerates, der Interessensvertretung aller Pflegekräfte in Deutschland. Er sagt im Gespräch mit der DW über das erste Pandemie-Jahr: "Es ist eine sehr, sehr hohe Belastung da. Die macht sich zum einem fest an dem hohen Arbeitsdruck, weil ja auch viele Kolleginnen und Kollegen zumindest in Quarantäne geschickt werden oder in den vergangenen Wochen sicher auch immer sehr viele infizieren. Und es ist aber auch die Erfahrung mit der hohen Sterberate zum Beispiel auf der Intensivstation und auch in den Pflegeheimen."
Erfolgreicher Lockdown
Aber der Lockdown vom März 2020 funktioniert. Die Infektionszahlen sinken; die Deutschen fühlen sich gut aufgehoben bei ihrer Regierung. Das Ausland ist voll des Lobes, rühmt deutsche Effizienz und Klarheit. Tatsächlich ziehen fast alle Bürger mit bei den Einschränkungen.
Die sind auch nicht so einschneidend wie etwa in Italien, in Spanien oder Frankreich. Einige wenige Menschen darf man noch treffen; der Bewegungsradius ist kaum eingeschränkt. Fahrräder haben Konjunktur. Anders als in anderen Ländern hält das Gesundheitssystem stand.
Schließlich kommt der Sommer; die Infektionen nehmen ab; die Einschränkungen werden gelockert. Und die Politik begeht einen schweren Fehler: Sie ruht sich aus auf den Erfolgen.
Eine deutsche Firma entwickelt einen Impfstoff
Längst hat die Firma BioNTech aus Mainz signalisiert, dass sie optimistisch ist, bald einen Impfstoff gegen das Virus parat zu haben. BioNTech arbeitet mit dem US-Pharmakonzern Pfizer zusammen. Die USA bestellen im Sommer verbindlich mehrere Millionen Dosen. Aber Europa zögert, hat rechtliche Bedenken - und setzt auf mehrere Hersteller.
Während Merkel bei der weiteren Entwicklung der Pandemie skeptisch bleibt, hört man, viele Ministerpräsidenten der Bundesländer würden auf rasche Lockerungen dringen. Das passiert auch Schritt für Schritt: Schulen öffnen, Restaurants unter Auflagen, die Wirtschaft läuft wieder an. Im Mai liegt die Zahl neuer Infektionen mehrere Tage hintereinander unter 1000, im ganzen Land.
Schon im Frühjahr kommt es erstmals zu Demonstrationen gegen die Beschränkungen für die Bürger. Die Gruppe "Querdenken" hält sie für eine nicht zumutbare Einschränkung der Freiheitsrechte.
Ende August löst die Polizei in Berlin eine Demonstration mit fast 40.000 Teilnehmern auf, weil die Hygieneauflagen missachtet werden. Die "Querdenker" sind dabei, aber auch extrem rechte Gruppen und sogenannte Reichsbürger. Einige versuchen, die Treppen des Reichstagsgebäudes zu besetzen.
Aber die meisten Deutschen genießen den Sommer - wenn auch eingeschränkt mit Auflagen und Masken. Und sonnen sich in dem trügerischen Gefühl, das Schlimmste überstanden zu haben.
Die zweite Welle
Zum Herbst hin baut sich die zweite Welle der Pandemie auf. Schon Anfang August steigt die Zahl der neuen Infektionen wieder auf über 1000 täglich. Mitte September sind es schon 2000, am 8. Oktober 4000. Ende September warnt Angela Merkel, wenn nichts unternommen werde, habe Deutschland zu Weihnachten rund 20.000 Infektionen am Tag.
Tatsächlich wird dieser Wert weit früher erreicht. Und Anfang November kommt der zweite Lockdown, Kontakte werden auf zwei Haushalte begrenzt, Gastronomie und Tourismusbranche müssen wieder schließen, wie im Frühjahr. Aber die Wirtschaft läuft weiter, vorerst bleiben auch die Schulen geöffnet. Zum Jahreswechsel startet dann endlich die Impfkampagne in Deutschland mit dem Impfstoff von BioNTech-Pfizer - zwei Wochen später als in Großbritannien. Die EU hatte sich bei der Zulassung des Impfstoffs Zeit gelassen.
Aber das Impfen startet schleppend, die Logistik ist schwierig; die Produktion stockt. Deutschland gilt inzwischen schon lange nicht mehr als Erfolgsbeispiel für die Virusbekämpfung. Als Vorbilder gelten jetzt andere Länder, Israel etwa, das im Rekordtempo seine Bevölkerung impft.
Angela Merkel sagt in Berlin: "Diese Pandemie ist eine Jahrhundertkatastrophe im Sinne einer Naturkatastrophe. Die Pandemie wird mit Recht von allen als eine Zumutung empfunden."
Die Einschränkungen werden noch einmal verschärft, offiziell nun bis Mitte Februar. Zwar zeigt der Lockdown Wirkung, die Zahl der Infektionen sinkt leicht. Aber wo Hoffnung war, herrscht jetzt die Angst vor einer Mutation des Virus, die weit ansteckender sein soll. Und die Todeszahlen sind erschreckend hoch, vor allem in den Pflegeheimen.
Bis zum Herbst, so verspricht es die Regierung, sollen sich alle Deutschen impfen lassen können. Dann werden anderthalb Jahre vergangen sein nach dem ersten Corona-Fall in Deutschland, am 27. Januar 2020.