Nach dem KZ in die UN
5. Dezember 2008Stéphane Hessel bezeichnet sich selbst als Glückskind. 1917 in Berlin geboren, geht der 16-jährige Hessel mit seinen Eltern nach Paris. Dort studiert er zunächst Philosophie bei Jean-Paul Sartre, dann internationale Beziehungen. 1939 wird er in die französische Armee eingezogen. Zwei Jahre später flieht er nach England, kehrt zehn Monate vor Kriegsende mit einem Spionageauftrag nach Paris zurück, und wird dort am 10. Juli 1944 von der deutschen Geheimpolizei der Nazis, der Gestapo, verhaftet. Er kommt nach Buchenwald, in eines der größten Konzentrationslager (KZ) auf deutschem Boden, später in das berüchtigte Außenlager Dora. Weil es ihm gelingt, die Identität eines verstorbenen Mithäftlings anzunehmen, kommt er frei.
Zurück in Paris soll er als Diplomat nach Peking reisen. Der Weg führt über New York, und dort verlaufen die Dinge anders: "Dort traf ich den Assistenten des UN-Generalsekretärs, einen Franzose mit dem Namen Logier. Der hat mich aufgefordert, ich sollte jetzt als internationaler Beamter mit ihm und nicht mehr als französischer Diplomat arbeiten. Das habe ich gerne angenommen. Die erste Aufgabe, die die Charta der UN vorgesehen hatte, war eine Erklärung für Menschenrechte aufzustellen." Die Menschenrechte sollten helfen, die Ziele der soeben aufgestellten UN-Charta einzulösen, ein politisch-moralischer Standard für die Staaten sollte entstehen.
"Genau das Richtige"
Hessel konnte in seiner neuen Funktion als Mitarbeiter des UN-Generalsekretariats die Verhandlungen aus nächster Nähe beobachten: "Das war natürlich für mich als Überlebender der KZ von Buchenwald und Dora, der Menschenrechte gerade als das neue Motto der neuen Gesellschaft empfand, natürlich das Richtige. Ich habe fünf Jahre lang mit Logier in der UN gesessen. Das Wichtigste, was wir taten, war über die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte nachzudenken, bis sie dann 1948 fertig war."
"Wir, die Überlebenden", sagt Hessel, "wollten in Gruppen arbeiten, um die Solidarität zu empfinden. Und wir wollten etwas erreichen." Die Grauen des Nationalsozialismus und auch des japanischen Militarismus hatten die Delegationsmitglieder deutlich vor Augen. Die Abkehr von den Schrecken des Zweiten Weltkriegs einte die Staaten, trotz aller Differenzen, meint Hessel: "Die Staaten des Osten, die Sowjetunion und ihre naheliegenden Staaten, die Vereinigten Staaten und ihre Werte, Europa und seine Werte, Südamerika, den Orient - wir wollten alle zusammenbringen. Auch China war daran beteiligt. Wir wünschten uns einen Eingriff von verschiedenen Seiten."
"Eleanor Roosevelt, eine sehr bedeutende Dame"
Zwölf Sitzungen brauchte es, bis die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ausformuliert war. Eines war nach Meinung von Hessel für den Erfolg entscheidend: "Die Präsidentschaft von der Eleanor Roosevelt, einer sehr bedeutende Dame, die schon einen großen Sinn für Sozialwerte hatte. Es ist ihr gelungen, die verschiedenen Beiträge des einen und des anderen in 30 Artikeln zusammen zu bringen. In den Artikeln stehen alle Rechte, nicht nur die zivilen und politischen Rechte, sondern auch die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Werte. Es ist ihr großer Beitrag, dass sie die verschiedenen Mitglieder dieser kleinen Gruppe so geleitet hat, damit sie zusammen einen kurzen Text akzeptiert haben."
Am 10. Dezember 1948 wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 48 Mitgliedsstaaten beschlossen. Nur Südafrika und Saudi Arabien sowie sechs sozialistische Staaten enthielten sich der Stimme.
Neues Kapitel der Menschheitsgeschichte
Auch wenn sie zunächst nicht rechtsverbindlich war, es war ein neues Kapitel in der Menschheitsgeschichte, erzählt Hessel. Erstmals standen allen Menschen von Geburt an die gleichen Rechte zu, unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht, Sprache oder Anschauung. Ein Schlüsselerlebnis für Stéphane Hessel.
Sein ganzes Leben lang sollte er für die Verwirklichung der Menschenrechte arbeiten. Seine diplomatische Karriere führte ihn später nach Saigon, Algier und Genf. Er wurde zeitweise französischer Botschafter, ging als Entwicklungshelfer nach Afrika und arbeitete in vielen Bereichen für die Menschenrechtsvertretungen.
"Kleine, hassende Gruppen"
Bei den weltweiten politischen Entwicklungen bleibt der 91-Jährige auf der Höhe der Zeit. Vor dem Auditorium einer Menschenrechtskonferenz in Nürnberg im Herbst 2008 bleibt er kritisch und zukunftsorientiert: "Ich halte den Terrorismus für eine Anlage von kleinen, hassenden Gruppen, die gegen die Zivilisation im allgemeinen vorgehen und sie umstürzen wollen, ohne irgend etwas anderes vorzuschlagen."
Aber warum sind sie so stark?, fragt Hessel: "Weil wir zu wenig getan haben, um den Entwicklungsländern zu helfen, damit sie stärker werden. Und das Resultat ist, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer und unglücklicher geworden sind. Die haben Nichts, die haben nur zwei Dollar am Tag und verhungern. Da steht unsere große Verantwortlichkeit in dieser Zeit des 21. Jahrhunderts."
Die neuen Aufgaben erkennen
Hessel lässt einen teilhaben an seiner Leidenschaft für eine bessere Welt. Und an der Kritik für die Regierungszeit von US-Präsident George W. Bush. Angesichts von Klimawandel, Globalisierung und Finanzkrise hat er noch einen Rat für die jüngeren Generationen: "Die neuen Gefahren müsst Ihr besser erkennen, als Ihr es bis jetzt tut. Ihr müsst wissen, wo die Gefahren stehen und wie man gegen sie arbeiten kann. Diese Gefahren sind alles Verletzungen der grundsätzlichen Menschenrechte. Wenn wir zum Beispiel die Erde schlecht behandeln, dann ist es ein Menschenrecht, die Erde gut zu behandeln. Das steht noch nicht in der Allgemeinen Erklärung, aber es ist heute sehr wichtig. Ihr müsst also die neuen Aufgaben erkennen und Euch dann ebenso gegen sie mobilisieren oder besser für sie mobilisieren, wie wir uns vor 60 Jahren für die Aufgaben unserer Zeit mobilisiert haben."