Ein Moment reicht
27. Juni 2014Auf den ersten Blick passte alles ins Bild: Das Ergebnis, die Tabelle, die herzliche Umarmung zwischen beiden Trainern nach dem Spiel. Gijon reloaded. Wie 1982 gewann die deutsche Mannschaft auch dieses Spiel mit 1:0, wie damals zogen beide Teams ins Achtelfinale ein und schließlich umarmten und beglückwünschen sich beide Trainer gegenseitig zum Weiterkommen. Wie der erste Blick doch täuschen kann. Denn Recife ist kein neues Gijon geworden.
Denn abseits der oberflächlichen Gemeinsamkeiten waren beide Partien in etwa so weit voneinander entfernt wie beide Spielorte. USA gegen Deutschland war ein umkämpftes und packendes, wenngleich auch nicht unbedingt schönes Spiel, das anders als die in den letzten Tagen oft bemühte historische Vorlage keinem Drehplan folgte.
Klinsmann ließ Beton anrühren
Von Beginn an wirkte es als wollen beide Mannschaften den Verdacht eines einvernehmlichen Paktes schnellstmöglich entkräften. Die deutsche Elf spielte im strömenden Dauerregen von Recife sofort nach vorne, attackierte Ball und Gegner früh. Zumindest in der Anfangsphase, die viele Zuschauer wegen der chaotischen Verkehrsverhältnisse in Recife verpassten, war auch das US-Team bemüht um Offensivakzente, versuchte seinerseits über schnelle Konter Druck zu erzeugen. Doch ziemlich bald wurde klar, dass die Mannschaft von Jürgen Klinsmann sich auf eines konzentrieren musste: verteidigen.
Tief zog sich die Elf der USA in die eigene Defensive zurück, machte teilweise aus der Vierer- eine Sechserkette. "Wir hatten viel Respekt vor der deutschen Mannschaft und waren auch etwas nervös", erklärte der US-Coach später auf der Pressekonferenz das Verhalten seines Teams, das er zwar einerseits mit reichlich amerikanischen Superlativen lobte, andererseits aber auch klar machte, dass er sich etwas mehr Ideen und Kreativität im Spiel nach vorne gewünscht hätte. Genau die hatte auch Joachim Löw erwartet. "In den ersten beiden Gruppenspielen waren sie aktiver, gingen mehr auf den Gegner drauf. Aber heute standen sie relativ tief", sagte der Bundestrainer, der in Erwartung einer offensivfreudigen und physisch starken US-Mannschaft im Mittelfeld mit Lahm und Schweinsteiger die defensivere Variante wählte und Sami Khedira diesmal draußen ließ.
Podolski nutzt seine Chance nicht
Doch Klinsmann, einst Stürmer und in frühen Trainertagen eher bekannt für mutigen Offensivfußball, überraschte seinen ehemaligen Assistenten Löw mit einer massiven Mauertaktik, die es der deutschen Offensive lange Zeit sehr schwer machte. Zwar hatte die DFB-Elf das Mittelfeld über weite Strecken fest unter ihrer Kontrolle, kam am Ende auf 63 Prozent Ballbesitz und war wieder ähnlich passsicher wie gegen Portugal. Doch zu Zählbarem führte dies lange nicht, auch weil das Flügelspiel erneut lahmte.
Weder Mesut Özil, den Löw weiter nicht ins bevorzugte Zentrum lässt, noch Lukas Podolski, der für Mario Götze in die Startelf rückte, vermochten es, wirkungsvoll hinter die amerikanischen Linien in Richtung Grundlinie zu stoßen. Insbesondere mit seinem einstigen Lieblingsschüler Podolski, der erstaunlich wenig Zug nach vorne zeigte, war Löw nicht zufrieden: "Ich hatte das Gefühl, dass er nicht so viel Bindung in Spiel hatte. Er ist oft etwas früh nach innen gegangen. Deshalb habe ich ihn zur Halbzeit rausgenommen", erklärte der Bundestrainer später seine überraschend kurze Geduld mit Podolski und brachte stattdessen Miroslav Klose.
Müller fokussiert und trifft
Der Altvordere der deutschen Offensive brachte wie schon gegen Ghana mit seiner Entschlossenheit und Laufbereitschaft, die Podolski zuvor vermissen ließ, neuen Schwung ins Team. An der spielentscheidenden Szene war er dieses Mal jedoch nicht beteiligt. Nach einer passgenauen Flanke von Kroos in den Strafraum stieg Per Mertesacker am höchsten und prüfte US-Keeper Tim Howard mit einem wuchtigen Kopfball, den Howard nur zur Seite abwehren konnte. Dort lauerte Müller, nahm Maß und zirkelte den Ball haargenau ins lange Eck - 1:0. Müller beschrieb die Szene nach Spielende in den Katakomben der Arena Pernambuco so: "Ich habe mich fokussiert auf den Ball, die Ecke avisiert und den Ball mal so getroffen, wie ich mir das vorstelle". Klingt einfach, war aber einfach nur genial. Müller hatte gesehen, dass sich der Torwart noch im kurzen Eck aufrappelte und ließ Howard mit seinem präzisen Schuss ins lange Eck keine Chance.
Klinsmann musste nun etwas tun, wollte er sich nicht darauf verlassen, dass im Parallelspiel Ghana gegen Portugal alles für die USA lief. Doch die US-Auswahl reagierte auf den Rückstand nicht mit mehr Drang nach vorne, sondern mit Härte. Vor allem Bastian Schweinsteiger bekam die zu spüren, wurde mehrfach rüde von den Beinen geholt. Nie weit weg war dabei das ehemalige Schalker Raubein Jermaine Jones, den Klinsmann später für seine "Niemals-aufgeben-Mentalität" explizit lobte.Etwas gebracht hat der vermehrte Körpereinsatz allerdings nicht, die deutsche Elf verwaltete das Ergebnis am Ende geschickt, ließ Ball und Gegner laufen. Die im Ghanaspiel noch wackelige Abwehr wurde von den USA allerdings kaum geprüft. Außer einer Großchance in der Nachspielzeit durch Clint Dempsey hatten die Amerikaner am Ende nicht mehr viel zu bieten, zogen aber dank der besseren Tordifferenz im Vergleich zu Portugal ins Achtelfinale ein, wo sie am Dienstag auf Belgien treffen. Die deutsche Mannschaft bekommt es einen Tag vorher mit Algerien zu tun.
"Jetzt zählt nur noch der Sieg"
Was aber bleibt von diesem Spiel, welche Erkenntnisse lassen sich daraus ziehen? Für Joachim Löw das scheinbar beruhigende Gefühl, dass man auch gegen kampfbetonte Teams gewinnen kann. Zugleich aber auch der Zweifel, ob die stellenweise sichtbaren Defizite im deutschen Spiel von stärkeren Gegnern in der K.o.-Runde nicht mehr ausgenutzt werden. Denn Jürgen Klinsmann brachte es nach dem Spiel auf den Punkt: "Jetzt beginnt ein neues Turnier. Jetzt zählt nur noch der Sieg".