Demokratie und Nachhaltigkeit auf Berlins Straßen
27. Juli 2019Bei strahlendem Sonnenschein im Sommer gönnen sich einige wenige Menschen etwas Ruhe. Sie sitzen auf kanariengelben Metallmöbeln, die entlang der baumbestandenen Bergmannstraße in Berlin da aufgestellt wurden, wo vorher Autos parkten.
Diese Möblierung der Straße ist Teil eines Versuchs. Der Berliner Senat hofft, damit die Straße in eine "Begegnungszone" zu verwandeln. Sie soll das Viertel im Stadtteil Kreuzberg grüner machen. Außerdem wurden grüne Punkte auf die Straße gemalt, um den Verkehr zu verlangsamen. Und viele Autoparkplätze sind jetzt - durch neu aufgestellte Fahrradständer - Fahrrad-Parkplätze geworden.
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Die damit verbundene Hoffnung ist, dass sich in der Straße die Lebensqualität verbessert - durch weniger Verkehr und damit bessere Luftqualität. Aber nicht alle Anwohner sind von den Vorteilen überzeugt.
Romina Bassarino aus Argentinien lebt seit neun Jahren hier und sieht das Ganze mit gemischten Gefühlen. "Also wenn es mehr benutzt werden würde, wäre es schon sinnvoll - aber wenn man sich das anguckt, sind die Sitze meistens leer", sagt die 37-jährige Bassarino, als sie eine Pause vom Einkaufen macht. "Ich finde es schön und bequem."
Andere Antworten reichen von völliger Verwirrung bis hin zu Wut.
"Also mit Pünktchen, bekloppter geht's nicht. Ich weiß nicht, was das soll!", sagt die 76-jährige Ingrid Saniwski. "Erstmal sieht es absolut hässlich aus, finde ich. Und dann ist es so, dass nachts hier Party gemacht wird... Da versammelt sich alles, da wird getrunken… Die Leute haben sich schon beschwert und man kann nicht schlafen."
Ingrid Saniwski lebt im Bergmann-Kiez, seit sie mit ihrer Familie aus dem sowjetisch besetzten Litauen floh. Damals, vor 55 Jahren, gehörte die Gegend zum Westen des geteilten Berlins. Im Vergleich zu der Zeit damals hat sich das Viertel stark verändert. Heute ist es ein beliebter Ort für Touristen und Berliner Newcomer. In den letzten zehn Jahren sind die Einwohnerzahlen in Berlin in die Höhe geschossen und doppelt so schnell gewachsen, wie es die Stadtplaner vorausgesagt haben. Heute konkurrieren hier Autos, Fahrräder und Menschen um Platz.
Deshalb sehen sich die lokalen Behörden dazu veranlasst, "Begegnungszonen" einzurichten, die von Fußgängern und Radfahrern genutzt werden können. Die Bergmannstraße ist eines von drei solchen Projekten in der Stadt.
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Bürgerbeteiligung
Hans-Peter Hubert, der seit langem hier wohnt, kämpfte dafür, dass die Anwohner in den Entscheidungsprozess um die Veränderungen in der Bergmannstraße mit einbezogen wurden. Er und die von ihm gegründete Initiative zur Verkehrsreduzierung gleich um die Ecke der Bergmannstraße halfen, eine sogenannte Steuerungsgruppe aus Bewohnern und Vertretern der Stadtverwaltung zu bilden. Sie sollte den Prozess der Bürgerbeteiligung leiten.
Seitdem gab es Workshops, Meetings und Online-Feedback-Runden mit Hunderten von Teilnehmern aus dem Kiez. Im Ergebnis wird nun die "Begegnungszone" in der Bergmannstraße getestet. Der Prozess brachte mancherlei Herausforderungen mit sich, aber immer mehr Anwohner denken inzwischen kreativ und konstruktiv darüber nach, wie ihre Gegend aussehen soll, sagt Hubert.
In ihrer ersten öffentlichen Sitzung zum Projekt im Jahr 2014 ging es sogar richtig heiß her.
"Da sind Leute aufgesprungen, haben Stühle geschmissen, haben Parolen geschrien und die Senatsvertreter beleidigt."
Das hat sich geändert. "Alle haben letztendlich gesagt, wie konstruktiv das Gespräch jetzt eigentlich war und da war fast gar keine Schreierei", sagt Hubert über den letzten Workshop im Mai dieses Jahres, an dem über 300 Leute teilnahmen.
Noch ist nicht klar, wie und ob überhaupt die Bergmannstraße nach dem Ende der Testphase im November verändert wird. Die Anwohner sind jetzt aufgefordert, ihre Meinung zu äußern und die Hoffnung ist, dass die Stadt danach über ein endgültiges Konzept für den grünen Kiez abstimmen wird.
"Ich bin sehr gespannt, wo der Konsens liegt", sagt Grünenpolitker Florian Schmidt, Baustadtrat des Bezirks. "In der großen Bürgerwerkstatt mit rund 300 Leuten, in der wir das ganze Thema besprochen haben, da war die Tendenz zu 'Autos raus'. Den Autoverkehr zu reduzieren, war der wichtigste Punkt."
"Ideen gemeinsam mit den Leuten zu entwickeln, zu schauen, wie es werden soll, das ist wunderbar. Aber Bürgerbeteiligung dauert sehr lange”, fügt er hinzu.
Viel Zeit aber hat Berlin nicht, wenn es darum geht, die CO2-Emissionen zu senken und den Gehalt an Stickoxiden und Feinstaub in der Luft zu reduzieren. Denn die Schadstoffe in der Luft übersteigen schon jetzt in einigen Bezirken die empfohlenen Grenzwerte.
Neue Herangehensweisen bei der Stadtplanung
Florian Schmidt hält es für besser, mehr mit Initiativen zu arbeiten, die die städtische Mobilität umweltfreundlicher gestalten wollen.
Changing Cities ist eine solche Initiative in Deutschland, die sich für ein anderes Miteinander aller Verkehrsteilnehmer einsetzt. Im Jahr 2016 startete die Gruppe eine Radfahrer-Kampagne, die den Berliner Senat schließlich dazu brachte, das erste "Mobilitätsgesetz" Deutschlands zu verabschieden, das darauf abzielt, den öffentlichen Verkehr zu verbessern und bis 2030 Tausende Kilometer neue Radwege zu bauen.
Berlin hinkt hinter fahrradfreundlichen Städten wie Kopenhagen und Amsterdam hinterher. Es mangelt an der entsprechenden Infrastruktur. Für Radfahrer ist es in Berlin in den letzten Jahren immer gefährlicher geworden.
"Der Wandel geht immer noch langsam voran, zum Teil wegen Budget- und Personalabbaus", sagt Ragnhild Sorensen von Changing Cities. "Aber auch, weil die Stadtbehörden in den letzten 70 Jahren für Autos und nicht für Fahrräder geplant haben. Viele Politiker denken, dass die Autobesitzer die Mehrheit sind und ihre Wähler. So ist es nicht mehr - nicht mehr in den großen Städten." 15 Changing Cities-Initiativen gibt es jetzt bundesweit zur Unterstützung von Fußgängern und Radfahrern.
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Zurück zur Bergmannstraße. Guillaume Berthot unterhält sich mit seinen Kunden in der Weinhandlung, in der er arbeitet. Berthot sagt, dass nach Wetter und Wein die Veränderungen in der Straße die Hauptgesprächsthemen im Laden seien. Zum Teil, glaubt er, weil die Menschen oft skeptisch gegenüber Veränderungen sind. Er denkt, Berlin könne von Beispielen wie in Frankreich lernen, wo viele Städte Fußgängerzonen haben.
Berthot glaubt, es hat schon vor der Testphase eine wirkliche Vision gefehlt, wie die Straße am Ende aussehen soll.
"Es wäre interessant, wenn sie es wie in Frankreich machen würden. Dort gibt es in vielen Städten Orte, wo keine Autos fahren. Es ist grün und wirklich interessant, sich (mitten in der Stadt) zu entspannen und genießen zu können", sagte er. "Denn im Moment kannst du mir nicht sagen, dass es schön ist, hier zu sitzen, mit all den Autos, die vorbeifahren."