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Ein #Aufschrei gegen Sexismus

Silke Wünsch28. Januar 2013

Das fragwürdige Kompliment eines Politikers hat eine rege Diskussion über den alltäglichen Sexismus losgetreten. Auf allen Kanälen wird hitzig debattiert - die Twitter-Aktion #Aufschrei gab den Anstoß im Netz.

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Twitter Logo(Photo credit should read LIONEL BONAVENTURE/AFP/Getty Images)
Twitter LogoBild: Lionel Bonaventure/AFP/Getty Images

Ausschlaggebend war der Bericht einer Journalistin, die vor einem Jahr bei einem offiziellen Abendessen ein zweifelhaftes Kompliment erhalten hat, ausgerechnet vom FDP-Politiker Rainer Brüderle. Er sagte zu ihr, dass ihr Dekolleté "sicher auch ein Dirndl ausfüllen könnte". Man kann über so etwas hinweglachen. Was die Betroffenen meistens auch machen. Man kann aber auch darüber nachdenken, wie oft einer Frau ein ähnliches "Kompliment" gemacht wird – täglich, unterschwellig und doch so offensichtlich. Und man kann sich wehren.

Beklemmend und beschämend

Das dachten sich auch zwei Twitter-Nutzerinnen und starteten unter dem Hashtag #aufschrei eine Aktion, bei der Frauen ihre Erlebnisse in 140 Zeichen schildern sollten. Der Zuspruch war enorm. Die beiden Initiatorinnen Anne Wizorek und Nicole von Horst sind einen Tag nach dem Start der Aktion schier überwältigt: "Die Resonanz habe ich nicht erwartet", sagte Nicole von Horst der Deutschen Welle. "Ich komme überhaupt nicht damit hinterher, alle Tweets mit dem Hashtag #aufschrei nachzulesen oder richtig darauf zu reagieren und einordnen zu können." Zwischendurch twittert sie müde aber begeistert: "Chapeau zu eurem Mut, immer noch und immer wieder!"

Innerhalb von vier Tagen sind 57 500 Nachrichten zum Thema auf Twitter eingegangen.

Manche der kleinen Botschaften sind unheimlicher als ein Augenzeugenbericht mit verstellter Stimme: "Der Arzt, der meinen Po tätschelte, nachdem ich wegen eines Selbstmordversuchs im Krankenhaus lag", ist dort zu lesen oder: "Der Typ, der einem nach Aussteigen aus der Bahn nachstellt und ruft, 'schöne Frau, warten Sie doch mal'". Hunderte dieser kleinen Ein-Satz-Geschichten zeichnen ein beklemmendes Bild.

Verständnis und Häme

Von gierigen Blicken wird erzählt, von Sportlehrern, die ihren Schülerinnen auf die Brüste starren, von Anmache in der Bahn, auf der Straße, in der Disco, auf der Arbeit und immer wieder Übergriffe in der eigenen Familie. Natürlich besteht die Chance, dass manche Geschichten auch erfunden sind. Nachprüfen kann das niemand. Ebenso kann niemand verhindern, dass Trolle (Störenfriede) immer wieder ihre ätzenden und beleidigenden Kommentare absetzen.

Die Resonanz beschränkt sich nicht nur auf Twitter. Die Medien werden wenige Stunden nach dem Start der Twitter-Aktion aufmerksam. Mit jedem Bericht kocht das Thema höher, auf Twitter häufen sich die Links zu Online-Artikeln und unzähligen Blogs, in denen sich Frauen und Männer zum Thema äußern.

Bemerkenswert dabei ist: Viele Männer fühlen sich nicht schuldlos angegriffen, sondern schämen sich für ihre Geschlechtsgenossen. Viele unterstützen die Aktion mit Verständnis und Zuspruch.

Unerwarteter Erfolg

Schnell wird eins deutlich: Hier geht es überhaupt nicht mehr um die verbalen Entgleisungen eines Politikers. Sondern darum, dass Frauen sich in dieser großen Zahl trauen, über ihre Erlebnisse zu berichten.

Mann hält einer Frau den Mund zu © detailblick #26718227
Frauen wollen sich nicht mehr den Mund verbieten lassen.Bild: Fotolia/detailblick

Auch die Reaktionen derjenigen, die das Thema ins Lächerliche ziehen wollen, spiegeln die große gesellschaftliche Kontroverse wider. Natürlich mischen sich auch im Netz Menschen ein, die die geschilderten Vorfälle als "übertrieben empfindlich" bezeichnen. In vielen Blogs und Kommentaren wird darüber diskutiert, wann ein sexistischer Übergriff eigentlich ein sexistischer Übergriff ist. Nicole von Horst: "Viele machen sich auch lustig, bringen Beispiele für Sexismus von Frauen gegen Männer und versuchen zu bagatellisieren."

Viele Frauen zeigen sich hier erleichtert, dass sie nicht alleine mit ihren Erfahrungen da stehen, freuen sich darüber, dass auch andere den Mut haben, ihre Geschichten zu erzählen.

140 Zeichen sind zu wenig

Das Thema beschäftigt die Medien, die Blogosphäre und die Sozialen Netzwerke. Dass die Debatte auch Tage nach dem Anstoß noch so hitzig geführt wird, ist ein Zeichen dafür, dass das Problem in Deutschland zu lange unter den Teppich gekehrt wurde. Vielleicht wird der Aufschrei eins erreichen: Dass Frauen nicht einfach über die alltägliche Anmache hinwegsehen und es als "normal" hinnehmen, sondern dass Frauen sich auch trauen sich zu wehren.

Nicole von Horst bleibt am Thema dran. Neben den vielen schon bestehenden Frauen- und Feminismus-Blogs hat sie eine eigene Website eröffnet, auf der Frauen richtig auspacken können. Denn eine so wichtige Debatte kann man auf Dauer nicht in 140 Zeichen führen.

"Es wäre wünschenswert", so Nicole von Horst, "wenn sich auch im deutschsprachigen Raum etwas etabliert, das sich nicht nur darauf beschränkt, Übergriffe zu sammeln, sondern Möglichkeiten zum Empowerment an die Hand gibt. Oder Tricks, wie man auf Belästigung reagiert. Und natürlich Erlebnisberichte von gelungenen Interventionen."