Ein afrikanisches Trauma
19. Dezember 2012Sie ist heute 17 und hat schon als Kind in die Hölle geblickt. Damals vor zehn Jahren, als in der Zentralafrikanischen Republik viele Menschen von Söldnern aus dem Nachbarland Kongo ermordet und vergewaltigt wurden. Esther war sieben Jahre alt. Die Männer fielen über sie her. Auch über ihre Schwester, ihre Mutter, ihre Oma. Esthers Vater wurde sofort erschossen von den marodierenden Banden. Wie geht man damit um, wenn man als kleines Mädchen vergewaltigt wird und mit ansehen musst, wie die ganze Familie zu leiden hat?
Die Geister im Kopf
"Esther und die Geister" hat die Schweizer Regisseurin Heidi Specogna ihre halbstündige Dokumentation genannt, für die sie jetzt in Nürnberg den Deutschen Menschenrechtsfilmpreis erhielt. Mit den Geistern sind nicht die Mörder und Vergewaltiger gemeint. Es sind die Geister, die man im Kopf nicht mehr los wird. Ihr sei eine riesige Hexe erschienen, erzählt das Mädchen Esther in dem Film. Deswegen verlässt sie manchmal nicht das Haus, scheut den Kontakt zur Außenwelt. Folgen eines Verbrechens.
"Was Esther erlebt, ist ein Alptraum", erzählt Heidi Specogna. "Sie wird auf ganz reale Weise noch heute bedroht. Es melden sich Geister bei ihr und haben auf sie einen so großen Einfluss, dass sie nicht mehr in der Lage ist, ihrem Alltag zu folgen." Vor vier Jahren traf die Filmemacherin zum ersten Mal auf die damals 13-jährige Esther. In der Zentralafrikanischen Republik recherchierte sie gerade für eine Dokumentation über den Prozess gegen Jean-Pierre Bemba Gombo vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Dem Rebellenführer aus dem Kongo wurden schwere Kriegsverbrechen in den Jahren 2002 und 2003 vorgeworfen. Specogna traf Mädchen und Frauen, die vergewaltigt wurden. Dabei sei es noch nicht einmal schwierig gewesen, die Frauen zum Reden zu bringen.
Ein Stück Normalität wiedergewinnen
"Das Trauma ist permanent präsent in ihrem Alltag", erzählt die Regisseurin. Es sei vornehmlich nicht darum gegangen, dass Esther über die Gewalttaten von damals redete. "Es ging darum, alles mit ihr noch einmal ein wenig aufzuarbeiten, darüber nachzudenken, inwieweit diese Geschichte auch dafür verantwortlich ist, wie es ihr heute geht. Dass sie nicht zur Schule geht. Dass die ganze Familie von Dorf zu Dorf zieht. Dass eine gewisse Beständigkeit in der Familie fehlt. Das war der Punkt, auf den der Film hinauswollte."
Der Regisseurin geht es in ihrem nun in Nürnberg prämierten Film nicht um die historische Aufarbeitung eines Krieges in all seinen Verästelungen. Bei der schier endlosen Abfolge immer neuer Bürgerkriege, Rebellenaufstände und Auseinandersetzungen zwischen Staaten, Banden und Söldnern, die die Region seit Jahrzehnten heimsuchen, verlieren selbst Fachleute den Überblick. In Europa kommen sowieso meist nur dürre Zahlen an: Hunderttausende Ermordete heißt es da, bestialische Massaker, Hungerkatastrophen. Die Nachrichten in den westlichen Ländern perlen in ihrer Abstraktheit nicht selten von den Zuschauern ab. Was weiß man schon über die einzelnen Opfer? Was über deren Leid?
Es kommt kaum Hilfe von Außen
"Es ist das Herz Afrikas, das krank ist", sagt eine alte Frau im Dorf Esthers. Die Frau kümmert sich um die Spätfolgen bei dem jetzt 17 Jahre alten Mädchen. Es ist eine traditionelle afrikanische Medizinfrau, die mit Muscheln auf alten Geldscheinen hantiert. Bekommen Kriegsopfer wie Esther überhaupt richtige Behandlung vor Ort? "Es gibt keine andere Behandlung. Es gab damals, als das passierte, eine medizinische Behandlung von 'Médecins Sans Frontières'", erzählt die Filmemacherin. Da seien zum Beispiel HIV-Tests durchgeführt worden. Das sei es aber auch gewesen. Psychologische Hilfe für die Frauen und Mädchen habe es nicht gegeben. Die seien sich selbst überlassen worden. "Heute gibt es gar keine andere Möglichkeit, als auf Medizinfrauen innerhalb der Gemeinschaft zurückzugreifen. Man muss sich deren Hilfe versichern."
"Esther und die Geister" ist ein Film der leisen Töne, des genauen Hinschauens. Er berichtet nicht über das Verbrechen, das nun zehn Jahre zurückliegt. Er richtet seinen Blick auf die Gegenwart. Das überzeugte auch die Jury des Menschenrechtsfilmpreises: "Der Film verliert diese grausame Vergangenheit der Mädchen nie aus den Augen", heißt es in der Begründung, "richtet seinen Blick aber vorwiegend auf die Zukunft und das Ringen um ein Stück Normalität."
Eine Art Kopfkino
Er habe die Entscheidung der Jury als sehr mutig empfunden, sagt Marko Junghänel vom Deutschen Menschenrechtsfilmpreis. Es habe viele Einreichungen gegeben, die auch auf Verletzungen in Deutschland hingewiesen haben. "Das spielt in der Bewertung der Jury sonst immer eine Rolle." Diesmal geht es also scheinbar "nur" um ein Einzelschicksal - und Deutschland ist weit weg. Junghänel schätzt die Entscheidung der Jury gerade deshalb, weil diese ein Werk ausgezeichnet habe, das auch ästhetisch überzeuge: "Der Film schafft es in 30 Minuten, ein Bild zu zeigen, das unheimlich dicht ist, dabei aber auf jegliche Darstellung von Gewalt verzichtet. Es spielt sich im Prinzip ein Kopfkino ab. Die Betrachter wissen genau, um was es geht, sehen eine Protagonistin, die mit 17 eigentlich noch ein Kind ist, auf der anderen Seite durch die Geschehnisse und die zehn Jahre, die seitdem vergangen sind, eine Erwachsene geworden ist, aber in diesem Konflikt lebt."
So ist "Esther und die Geister" ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie ein Film sich mit Menschenrechtsverletzungen auseinandersetzten kann. Indem er ganz nah herangeht an seine Protagonisten. Sich mit ihnen auf eine sehr persönliche Art und Weise beschäftigt, und sie nicht reduziert auf Zahlen, Fakten und Daten.
Der Deutsche Menschenrechtsfilmpreis wird seit 1998 in Nürnberg in fünf Kategorien verliehen. Unterstützt wird der Preis von insgesamt 18 Organisationen wie Amnesty International, der deutschen UNESCO-Vertretung oder der Evangelischen Kirche. Heidi Specogna erhielt den Preis für ihre Dokumentation "Esther und die Geister" in der Kategorie "Profi-Film". Weitere Auszeichnungen gingen an "Bon Voyage" von Fabio Friedli (Kurzfilm/Magazinbeitrag), "Rausch" von Verena Jahnke (Filmhochschule), "Syrien - zwischen Verzweiflung und Hoffnung" (Amateur), "Five ways to kill a man" von Christopher Bisset (Bildung).