Ehrung für Irans Dichter-Wiege Schiras
15. Februar 2020Kann es sein, dass dieser Ort einen ganz besonderen Geist atmet? Der Dichter Hafis, um 1315 in Schiras zur Welt gekommen, sah es so. Schiras, die Stadt im südlichen Zagros-Gebirge, Herkunftsort zweier großer Dynastien, der Achämeniden und der Sassaniden, Hauptstadt zudem der Südprovinz Fars, atmet einen ganz eigenen Geist, fand der Dichter: "In Schiras ist die Gabe des göttlichen Geistes / unter der weisen Bevölkerung ein innerer Wesenszug".
Gewiss könnte Schiras auch ohne das Dichterlob bestehen. Die Stadt hat auch ohne sie viele Vorzüge: ihre Lage inmitten einer fruchtbaren Ebene, innig verbunden mit dem Weinbau, dessen archäologische Überreste den Ort als eines der ältesten Zentren des Weinanbaus im ganzen Nahen Osten ausweisen. Bekannt sind auch ihre Parkanlagen, die als Musterbeispiele persischer Gartenkultur gelten.
Zentrum der Dichtkunst
Und doch wäre die Stadt ohne ihre Dichter eine andere. Die beiden Nationaldichter Saadi (ca. 1210-1292) und Hafis (1315/25-ca.1390) stammen aus ihr, dazu eine Reihe weiterer: Obeid-e Zakani, Khaju Kermani, auch die Prinzessin Jahan Malek Khatun, auch sie Künstler, die das 13. und 14. Jahrhundert zu einer Hochzeit der iranischen Dichtkunst machten. Es dürfte dieses Erbe gewesen sein, dem die Stadt ihre Wahl zur iranischen Hauptstadt des Buches 2020 verdankt.
Die Ernennung zur Buchhauptstadt sei nachvollziehbar, sagt die Iranistin Bianca Devos von der Universität Marburg. Schiras sei für die iranische Gesellschaft nach wie vor ein Inbegriff des literarischen Erbes, und zwar vor allem dank der beiden großen Dichter, die in ihr geboren wurden. "Die beiden sind das erste, was die Iraner mit der Stadt verbinden", so Devos im Gespräch mit der DW. "Sie haben der Stadt eine enorme Strahlkraft verliehen."
Der Titel "Hauptstadt des Buches" wurde 2015 erstmals verliehen. Er ging damals an die Stadt Ahvaz. Der Titel soll dazu beitragen, die literarische Infrastruktur - etwa Bibliotheken, Buchhandlungen, Lesesäle - der jeweils ausgewählten Stadt auszubauen. Auch soll durch viele Aktionen das Lesen gefördert werden. Bisherige Hauptstädte waren neben Ahvaz Neyshabur, Busher, Kashan und Yazd.
Tradition der Toleranz
Beide Dichter, so der englische Iranist Dick Davis in seinem Buch "Faces of Love. Hafez and the poets of Shiraz", haben eine Tradition der Liberalität und Toleranz begründet, die von vielen Lesern bis heute geschätzt wird. "Nimm, o Mann, den Rat, wo du ihn findest, / Sei's auch von der Schrift an Mauerecken" schreibt Saadi in seinem 1259 verfassten "Golestan" ("Rosengarten"). "Es gibt keine fehlerfreie Kunst – wir alle sind irgendwie unzulänglich" notiert Hafis in einem seiner Gedichte, und weiter: "Ich habe Hafis gesehen, Ich kenne ihn gut; / er ist ein Ignorant."
Selbstironie, die allem Dünkel die Luft raus lässt bei Hafis; ein Aufruf zur Bescheidenheit bei Saadi, verbunden mit dem Hinweis, Vernunft auch in den bescheidensten Quellen zu suchen ("an Mauerecken"): Die beiden formulieren eine Ethik persönlicher Zurückhaltung, die auch politische Implikationen hat: Denn sie richtet sich nicht nur an gewöhnliche Leser, sondern auch an jene, die Verantwortung für das Gemeinwesen tragen.
Iranischer Fürstenspiegel
"Es gab natürlich bereits eine Tradition des Fürsten-Spiegels in der persischen Literatur, die den idealen Herrscher als den gerechten Herrscher beschrieb", sagt Bianca Devos. "Sie leitet sich noch aus vorislamischer Zeit her. Aber bei Saadi muss man natürlich auch die historischen Umstände berücksichtigen: Er erlebt in einer Zeit des Umbruchs, einer Zeit, in der die Mongolen zeitweise den gesamten Iran unterworfen hatten."
Um das Jahr 1220 begannen die Mongolen mit der Eroberung des Iran. "Der Mongolensturm stellte für Iran eine Katastrophe von bisher nicht gekannter Größenordnung dar", schreibt die Iranistin Monika Gronke in ihrer "Geschichte Irans". "Die von den Mongolen eroberten Gebiete glichen einem Trümmerfeld."
Aus dem Schrecken jener Jahre entwickelt Saadi ein Bild des gerechten Fürsten, der sich vor allem durch eines auszeichnet: eine ausschließlich auf dem Gesetz beruhende Herrschaft. "Zuwider dem Gesetz wird ein Trunk Wassers Sünde, / Vergoß'nes Blut wird Recht durch des Gesetzes Gründe". Die Logik des Gesetzes mag nicht immer leicht zu verstehen sein. Aber das Gesetz schafft Normen, die allgemein bekannt sind. Jeder weiß, woran er sich zu halten hat und ist darum vor Willkür sicher. Lesen lässt sich der Text auch mit Bezug auf die Gegenwart, nämlich die der Islamischen Republik und deren Rechtsordnung. Auch deren Realität müsste sich an den Prinzipien von Saadis idealem Herrscher messen lassen. Für nicht wenige Leser dürfte das Lob des weisen und gerechten Herrschers in latenter Spannung zum harten Regierungsstil des derzeitigen Regimes stehen.
So verstanden, ist die Wahl von Schiras zur Buchhaupstadt 2020 durchaus eine Herausforderung für das islamische Regime. Denn es muss klären, wie sie zu den beiden Nationaldichtern und ihrer Toleranz positioniert. Dies tut sie, indem sie auf eine andere Lesart der beiden Dichter setzt. "gerade Hafis ist ein Meister der Ambiguität", sagt Bianca Devos. Besonders Hafis habe die Kunst der Mehrdeutigkeit perfektioniert. "Seine Dichtung ist kompliziert und anspruchsvoll und lässt eben darum zahlreiche Deutungen zu."
Konkurrierende Lesarten
So etwa, wenn Hafis sich Themen wie dem Alkoholgenuss oder der Erotik widmet. "Handlungen wie der Weingenuss oder der Flirt mit einem hübschen jungen Mundschenk galten eines so bedeutenden Dichters als unwürdig und wurden routiniert als mystische Metaphern erklärt", so Dick Davis in seinem Buch. Religiös umgedeutet, sind solche Verse auch für strenggläubige Menschen hinnehmbar.
Andere Lesarten ließen sich mit den offiziellen Moralvorstellungen der islamischen Republik nicht vereinbaren, sagt Bianca Devos. "Aber sie lassen sich eben auch als mystische Texte deuten. Darum können Hafis' Werke auch im heutigen Iran gelesen werden."
Ob Shiras als iranische Buchhauptstadt Impulse setzen kann? Auf Twitter verlinkt ein User auf einen Artikel des Journalisten und Autors Siroos Roomi. "Wenn die Vergabe eines solchen Titels keine rein formale Angelegenheit ist, sondern zu einer grundlegenden Veränderung führt, wenn die Auseinandersetzung mit dem Thema Buch von Grund auf revidiert wird, dann könnte man sagen, das die Auswahl von Shiras etwas gebracht hat", so Roomi.
Die Wahl von Shiras als Buchhauptstadt 2020 zeige auf jeden Fall eines, sagt Bianca Devos – nämlich wie lebendig das literarische Erbe der Stadt ist. "Es ist als Teil der nationalen Identität auch in der Islamischen Republik noch sehr stark. Natürlich gibt es heute auch die islamische Tradition. Aber die persische Sprache und der iranische Nationalismus, wie er unter dem Schah Pahlavi propagiert wurde, wirkt dennoch weiter nach und kann durchaus auch in der Islamischen Republik fortbestehen."