"Es dominiert modisch orientiertes Mittelmaß"
22. August 2018In Ludwigshafen am Rhein kommt man von diesem Mittwoch an für zwei Wochen zum "14. Festival des Deutschen Films" zusammen. Die Veranstaltung, eine Art Leistungsschau des deutschen Kinos, hat sich zu einer auch beim Publikum beliebten Veranstaltung entwickelt, die einerseits die besten deutschen Filme der zurückliegenden zwölf Monate zeigt, andererseits mit ein paar Erstaufführungen einen Blick in die Zukunft wirft.
Wie steht es aber um das deutsche Kino? Im DW-Interview mit einem der großen deutschen Regisseure, dem inzwischen 85-jährigen Edgar Reitz, werfen wir einen Blick in die Zukunft. 1962 initiierte Reitz bei den Kurzfilmtagen das berühmte "Oberhausener Manifest" und feierte 1984 mit der Film-Serie "Heimat" einen weltweiten Erfolg. Damals brachte er damit den deutschen Film auch international wieder ins Gespräch.
Deutsche Welle: Sie sind einer der Unterzeichner des Oberhausener Manifests von 1962, das damals einen Neuanfang des deutschen Kinos forderte. Vor kurzem haben Sie junge Filmemacher aufgefordert, sich zusammen zu tun und ebenfalls einen Neuaufbruch zu initiieren. Was war Ihr Ziel damit?
Edgar Reitz: Es ist vieles reformbedürftig im deutschen Film. Vor ein paar Jahrzehnten war es ja richtig, ein Filmförderungssystem aufzubauen. Das beherrscht inzwischen aber die gesamte Filmszene und die Herstellungsweise deutscher Filme. Es gibt eine bestimmte Typologie, wie ein deutscher Film entsteht: Wenn ein Filmemacher in diesem Lande erfüllt ist von einer Idee oder einem Thema, dann geht er denselben Weg wie jeder Kollege, jede Kollegin vor ihm.
Er wird zuerst bei einer Rundfunkanstalt anfragen, weil er erst mit der Zusage einer Fernsehanstalt Eigenmittel nachweisen kann. Dann wird er versuchen, einen Verleihvertrag zu bekommen, weil das alle Förderanträge begünstigt.
Dann stellt man Anträge bei mehreren Förderungsinstitutionen. Wenn man durch diese ganze Mühle hindurch ist und am Ende gefördert wird und die Finanzierung zustande kommt, dann hat man mit jedem anderen deutschen Film eine so große Ähnlichkeit angenommen, wie man es kaum für möglich hält.
Es entsteht sozusagen eine nationale Filmästhetik, die durch dieses System zustande kommt. Das Ergebnis ist, um es auf einen einfachen Begriff zu bringen: In den deutschen Filmen spielt Relevanz, also "diskutierbarer Inhalt", der als relevant empfunden oder definiert wird, eine entscheidende Rolle.
Wie sieht diese Relevanz aus, das klingt ja bei Ihnen eher negativ?
Die Aufladung aller Handlungselemente mit Bedeutung, Bedeutung im Sinne einer Symbolisierung von Ideen und Gedanken durch Handlungen und Handlungsträger. Die Figuren der Handlung sind Bildungsträger und keine lebendigen Wesen. Da haben sich bestimmte Klischees herausgebildet. Es gibt ein paar Dutzend solcher Stereotypen. An den Filmschulen lernt man seine Stoffe so zu sortieren, dass man weiß, damit kommt man durch die Gremien und Förder-Institutionen.
Das heißt, die Entscheidungsmechanismen sind bei den Autoren schon vorweggenommen, sie haben sich voll darauf eingestellt, sind schon ins Unbewusste abgewandert. Das Fatale dabei ist, dass das Publikum überhaupt keine Rolle spielt.
Fragen wie: Finde ich mit meinem Film Publikum? Findet bei der Aufführung des Films im Kino eine Begegnung statt mit den Menschen? Wem fühle ich mich zugehörig, wenn ich einen Film mache? Das ist vollkommen aus der Vorstellungswelt entschwunden und es spielt deswegen auch in der wirtschaftlichen Abwicklung keine Rolle, ob man Erfolg hat oder nicht!
Warum orientiert man sich nicht nach Wirtschaftlichkeit?
Ein geförderter deutscher Film muss nicht einen Euro einspielen! Er hat bereits in der Herstellung die meisten seiner Beteiligten ernährt: die filmtechnischen Betriebe, die Teams, die Mitarbeiter. Mal abgesehen von den Nachwuchs-Filmschaffenden, die das Ganze auf dem Weg der Selbstausbeutung zustande bringen. Das ist die andere Seite der Medaille.
Dieses Verhältnis zwischen künstlerischer Produktion und wirtschaftlicher Produktion und dem Publikum ist vollkommen zerrüttet. Das kann so nicht wirklich gedeihen, weil es in dieser Form weder eine künstlerische Entwicklung gibt, der Film aber auch keine wirkliche wirtschaftliche Zukunft hat. Da zielt mein Aufruf hin.
Was muss sich ändern?
Wir brauchen von der Gesetzgebung wesentliche Änderungen. Die Rolle des Fernsehens muss hinterfragt und neu geregelt werden, auch die Entscheidungswege der Förderungen. Heute existiert in der Filmförderung ein unaufgelöster Widerspruch: Das ist der Widerspruch zwischen der wirtschaftlichen und der kulturellen Förderpraxis.
Nach EU-Richtlinien darf der Staat nur kulturell fördern. Nach dem Grundgesetz in Deutschland darf der Staat nur wirtschaftlich fördern. Da mogelt man sich durch. Da muss etwas geändert werden.
Wäre eine Kulturförderung statt Wirtschaftsförderung sinnvoller?
Es muss eine kulturelle Priorität in die Film-Förderung hinein. Das heißt, dass bei Fördervorgängen die erste Entscheidung, also welches Projekt überhaupt gemacht wird, sich aus kulturellen Gründen ergeben muss.
Um an diesem ganzen tief eingefahrenen, über 40 Jahre praktizierenden System wirklich etwas zu ändern, braucht es eine ganze Generation, die das verlangen muss. Deswegen habe ich gesagt: Die Jungen müssen jetzt ein "zweites Oberhausen" machen. Leute wie ich, können nichts mehr ändern.
Nun sind doch alle recht stolz, dass der deutsche Film einen Anteil von rund einem Viertel von einhundert Prozent der Einspielergebnisse hat…
Das sind die Statistiken! Die Filmförderung sagt stolz, wir haben wieder 24 Prozent Marktanteil mit dem deutschen Film. Dabei wird verschwiegen, dass 23 Prozent auf "Fack Ju Göhte" entfallen und der Rest verteilt sich auf das übrige Prozent. Das hat es übrigens immer gegeben. Das ist die Fortsetzung einer bestimmten Tradition, das gibt es in jedem Land: Es gibt überall dieses massive, modisch orientierte Mittelmaß.
Bei aller berechtigten Kritik - hat der deutsche Film nicht auch seine Stärken?
Ja, das Potenzial ist vorhanden! Es ist aber ein Jammer, dass dieses Potenzial keine wirklichen Folgen nach sich zieht. Zum Beispiel dieser wunderschöne Romy-Schneider-Film "3 Tage in Quiberon" (Regie: Emily Atef /Anm. d. Red.) mit einer professionellen Beherrschung der Schauspielführung und Bild-Gestaltung.
Gerade die Frauen, die jetzt antreten! Das ist eine schöne, positive neue Entwicklung. Maren Ades "Toni Erdmann", Maria Schrader mit ihrem Film "Vor der Morgenröte" über Stefan Zweig, ein wunderschöner Film mit großer Poesie und einer großen Klugheit. Oder Nicolette Krebitz mit "Wild".
Das sind wirklich ganz rasante neue Talente. Sie sind bemerkenswert und sie fallen auch innerhalb der Förderung aus der Reihe. Aber sie durchbrechen nicht diese Wand, die sich aufgebaut hat zwischen den Filmschaffenden und dem Publikum.
Das Gespräch führte Jochen Kürten. Das "14. Festival des deutschen Films in Ludwigshafen am Rhein" findet vom 22.8. bis 9.9. 2018 statt. Im Wettbewerb um den mit 20.000 Euro dotierten Ludwigshafener Filmkunstpreis bewerben sich in diesem Jahr 13 deutsche Produktionen.