Wie Gefängnisse zu Tatorten werden
30. September 2021Inzwischen riegelt das ecuadorianische Militär die Haftanstalt Guayas N1 von außen ab. Dem Polizeichef von Guayaquil zufolge hat die Erstürmung durch rund 400 Spezialkräfte am Mittwoch Schlimmeres verhindert. Doch bis dahin hatte der Kampf zwischen rivalisierenden Banden bereits mindestens 116 Menschenleben gekostet. Mehr als 80 weitere wurden verletzt, darunter zwei Polizisten. Sechs Opfer wurden enthauptet, aber der größere Teil ist laut Polizei durch Schusswaffen und Granaten getötet worden.
Vor dem größten Gefängnis des Landes warten nun bangend Menschen auf Nachrichten von inhaftierten Familienmitgliedern. Andere wissen bereits, dass ihre Angehörigen zu den Opfern zählen: Insassen haben die Gräueltaten aufgezeichnet und über das Internet verbreitet.
Ein dauernder Ausnahmezustand
Der ecuadorianische Präsident Guillermo Lasso verhängte für 60 Tage den Ausnahmezustand über alle Gefängnisse des Landes, um zu verhindern, dass die Gewalt sich ausbreitet. Die Befürchtung kommt nicht von ungefähr.
Bereits im Februar waren verfeindete Gruppen in vier Haftanstalten gleichzeitig aufeinander losgegangen. 79 Menschen wurden damals regelrecht hingemetzelt - mit Messern, Macheten und Motorsägen verstümmelt. Im Juli dann wurden 22 Häftlinge bei Gefängnis-Aufständen in Guayaquil und Cotopaxi getötet. Nachdem schon im Laufe des vergangenen Jahres 103 Gefängnisinsassen getöteten wurden sind es laut Präsident Lasso in diesem Jahr bereits mehr als 300.
Chronisch unterfinanziert und überbelegt
Für Lasso, der erst im Mai das Präsidentenamt übernahm, ist die wachsende Gewalt unter Häftlingen ein geerbtes Problem. Über Jahre hatte sich die Situation im Strafvollzug zugespitzt: Seit 2010 hat sich Ecuadors Gefängnisbevölkerung mehr als verdreifacht. Zwar wurden auch Gefängnisse gebaut, dennoch sitzen derzeit rund 40.000 Menschen in Zellen, die für 33.000 Insassen ausgelegt sind.
Doch, was vielleicht noch schwerer wiegt: Bewacht werden die 40.000 Häftlinge von gerade einmal 1500 Beamten. Obwohl die Gefangenenzahlen weiter stiegen, kürzte die Regierung das Budget der Straffvollzugsbehörde SNAI von 153 Millionen US-Dollar im Jahr 2017 auf 88 Millionen im vergangenen Jahr.
Aktionsplan für den Strafvollzug
Nach den Vorfällen Ende Juli hatte Lasso den SNAI-Chef entlassen und durch den Oberst der Reserve Fausto Cobo ersetzt. Bereits im August präsentierte Cobo einen Aktionsplan zur langfristigen Verbesserung der Situation: Kurzfristig sollten Häftlinge umverlegt und die Gefängnisse stärker auf Waffen und unerlaubte Gegenstände untersucht werden. Mittelfristig sollten Sicherheitsvorrichtungen wie Körperscanner dabei helfen, den Waffenschmuggel zu unterbinden.
Langfristig wollte Cobo in die Infrastruktur und die Ausrüstung des Gefängnispersonals investieren. Auch ihre Ausbildung und ihre Bezahlung will er verbessern. Binnen eines Jahres wollte Cobo 1000 neue Beamte einstellen.
Neuer Behördenchef tritt zurück
Dafür hatte die Regierung laut Cobo 75 Millionen US-Dollar in den kommenden vier Jahren in die Hand nehmen wollen. Das wäre ein riesiger Sprung nach den 665.000 Dollar, die 2020 neben den laufenden Kosten in das System investiert wurden. Doch Cobo ist nach den jüngsten Ereignissen zurückgetreten. Was aus seinem Aktionsplan wird, ist derzeit ungewiss.
Dabei deutete einiges davon in die richtige Richtung. Denn nach Einschätzung des deutschen Juristen und Entwicklungshelfers Stefan Krauth ist die Unterfinanzierung eines der Hauptprobleme im ecuadorianischen Strafvollzug. Es sei kein Wunder, dass Wachleute, die monatelang auf ihren Lohn warteten, beim Waffenschmuggel wegsähen, wenn sie deswegen bedroht oder bestochen werden.
Zudem rät Krauth Ecuador, seine Rechtsprechung zu überprüfen: Die hoffnungslose Überbelegung der Gefängnisse sei im Zuge der von den USA eingeforderten Anti-Drogenpolitik entstanden. So würden auch Bagatelldelikte oft mit Gefängnis bestraft: "Ich bin mir sicher, dass die Hälfte der Gefangenen in Deutschland nicht einsitzen würde", sagte Krauth der DW.
Gefängnis-Gangs: ein lateinamerikanisches Problem
Allerdings ist Ecuador keine Ausnahme in Lateinamerika. Die Liste von Gefängnisaufständen in der Region ist lang und auch die Gründe sind ähnlich. Doch wenn sich die Revolten früher hauptsächlich gegen die katastrophalen Bedingungen in den Haftanstalten richteten, sind es heute immer häufiger Konflikte unter verfeindeten Banden, die auf brutalste Weise ausgetragen werden. So sind Gefängnisse zu regelrechten Hochburgen des organisierten Kriminalität geworden.
Inhaftierte Drogenbarone kommandieren aus ihnen heraus ihre Kartelle. Die Haftanstalten sind auch direktes Betätigungsfeld für Banden, die einerseits den Drogenhandel dort kontrollieren. Sie haben es aber auch leicht, neue Mitglieder zu rekrutieren, weil Häftlinge ohne Gang der Gewalt durch Mithäftlinge, aber auch Wachleute schutzlos ausgeliefert sind. In Brasilien ist daraus unter anderem das Primeiro Comando da Capital erwachsen, das heute - auch außerhalb des Strafvollzugs - zu den mächtigsten Drogenkartellen und Verbrecherorganisationen des Landes gehört.
Auch die Gefängnismassaker in Ecuador stehen im Zusammenhang mit dem internationalen Drogenhandel. Das Land liegt zwischen Peru und Kolumbien, den Kokainproduzenten der Erde. Die Hafenstadt Guayaquil gilt als einer der Hauptumschlagplätze der amerikanischen Westküste.