Echter Neuanfang in Spanien?
1. Juni 2018Mariano Rajoy und die konservative Volkspartei Partido Popular (PP) haben in den vergangenen Jahren außerordentliches Beharrungsvermögen bewiesen und allen Vorwürfen getrotzt. "Jahrelang die Verantwortung für die bekannt gewordenen Korruptionsfälle zu verweigern, kann keine Lösung sein", sagt Wilhelm Hofmeister, Madrider Bürochef der Konrad-Adenauer-Stiftung. Die PP hielt an der Regierungsmacht fest, selbst als wiederholt Mitglieder der Partei festgenommen, ihnen der Prozess gemacht und sie verurteilt wurden, wie zum Beispiel im Falle des ehemaligen Wirtschaftsministers und IWF-Chefs Rodrigo Rato.
Der Ministerpräsident trat auch nicht zurück, als am 24. Mai der ehemalige Schatzmeister der Partei und etliche Madrider Regional- und Lokalpolitiker im sogenannten "Gürtel-Prozess" verurteilt wurden. Es ging um Korruption, Unterschlagung, Geldwäsche und illegale Bereicherung. Die Richter bezichtigten erstmals auch die PP der illegalen Parteienfinanzierung und die Partei damit als Nutznießer krimineller Machenschaften. Rajoy reagierte lediglich mit der ständig vor laufender Kamera wiederholten Beteuerung: "Niemand aus meiner Regierung steht unter Verdacht. Wir haben damit nichts zu tun."
Sánchez: Historische Chance genutzt
Sozialistenführer Pedro Sánchez hat an den Wahlurnen schon mehrmals gegen die PP verloren. Kritiker schreiben dem jungen gutaussehenden Politiker keine besondere Intelligenz zu, wohl aber Kampfgeist. Jetzt sah er seine historische Chance, in Windeseile Spaniens neuer Premier zu werden. Zum ersten Mal seit der Verabschiedung der demokratischen Verfassung nach dem Ende der Franco-Diktatur vor vierzig Jahren kam damit in Spanien eine Partei per Misstrauensvotum an die Regierungsmacht.
180 Parlamentarier stimmten am Freitagmorgen für Sánchez von der Partido Socialista Obrero Español (PSOE) als neuen Premier, 169 Abgeordnete votierten gegen ihn. Damit erreichte er die absolute Mehrheit - allerdings nur, weil er sich verpflichtete, den Haushaltsplan beizubehalten, den Rajoys Minderheitenregierung gerade unter Mühen und ohne die Zustimmung der Sozialisten durchs Parlament gebracht hatte.
Rajoy: Wirtschaftlich erfolgreich, politisch blass
Rajoy steht nach dieser Niederlage als Verlierer da. Er hatte es zwar geschafft, sein Land nach dem Regierungsantritt 2011 aus der schweren Finanzkrise zu manövrieren, in die Spanien auch aufgrund der enormen Korruption bei Sparkassen und Bauwirtschaft geschlittert war. Doch während es wirtschaftlich immer besser lief, ging es für die PP politisch in den vergangenen Jahren immer schneller bergab. Zunehmend kamen Korruptionsfälle im Zusammenhang mit dem Immobilienboom in die Medien und vor die Gerichte. Bei den Wahlen 2015 erzielte die PP keine Mehrheit mehr, sie wollte aber auch keine Koalition eingehen und bildete eine Minderheitsregierung. 2016 gab es deswegen Neuwahlen. Das Ergebnis änderte das Kräfteverhältnis nicht.
Zudem erwies sich die Unabhängigkeitsbewegung in Katalonien als ernsthafte Gefahr für die spanische Einheit. Rajoy hat sich bisher geweigert, mit der neuen Regierung in Barcelona zu verhandeln. Beim Misstrauensvotum haben die katalanischen Separatisten für den Sozialisten Sánchez gestimmt. Nach seinem Regierungsantritt erhoffen sie sich neue Impulse für eine spanische Verfassungsreform. Sie erwarten auch, dass die Aussetzung der Autonomie in Katalonien aufgehoben wird und sich damit die wirtschaftliche Lage entspannt.
Eine andere Kraft wird dagegen auf Konfrontationskurs zu Sánchez gehen: die liberale Partei Ciudadanos, stärkste Partei in Katalonien und inzwischen laut Umfragen auch in ganz Spanien. Sie hat auch deswegen beim Misstrauensvotum nicht für ihn gestimmt: "Wir wollten den Rücktritt Rajoys und Neuwahlen, aber keine Machtübernahme auf diese Art durch ein Misstrauensvotum", sagte Parteichef Albert Rivera bei der Debatte im spanischen Parlament.
Rücktritt ist in Spanien nicht üblich
Rajoy wird oft als stur bezeichnet - so hat er sich jetzt auch gebärdet. "In Spanien gilt ein Rücktritt als Schuldeingeständnis, deswegen ist dazu keiner bereit", erklärt der in Madrid lebende Ingenieur Fernando Rodríguez. Wie viele andere Spanier bewundert er, dass deutsche Politiker oft schon bei Verdächtigungen zurücktreten: "Aus Würde und auch um ihrer Partei nicht zu schaden. Das macht hier keiner." Selbst Sánchez erwähnte Deutschland in seiner Rede im Parlament: "Herr Rajoy, dort treten Politiker zurück, wenn sie des illegalen Handelns verdächtigt werden." Die konservative PP hielt dagegen: "Spanien braucht Stabilität und deswegen ist eine neue Regierung nicht ratsam und auch ein neuer Premier nicht", so der parlamentarische Sprecher der PP, Rafael Hernando, in seiner Rede gegen das Misstrauensvotum.
Nur einer hat jemals den Rücktritt gewählt: der ebenfalls stark umstrittene Sozialist José Luis Rodríguez Zapatero. Er trat den Rückzug an, als die öffentliche Meinung sich aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Lage Spaniens immer mehr gegen ihn wandte. 2011 rief er Neuwahlen aus und schickte seinen zweiten Mann in den Ring, Alfredo Pérez Rubalcaba, der gegen Rajoy verlor. Dieser holte damals die absolute Mehrheit, auch weil die Korruptionsfälle, die jetzt vor Gericht verhandelt werden, noch nicht bekannt waren und weil Parteien wie Ciudadanos und die linkspopulistische Podemos noch nicht existierten und nicht stark genug waren.
Spanien braucht einen Neuanfang
Der in Spanien lebende Anwalt Georg Abegg fordert, die PP und das gesamte Land müsse sich grundlegend erneuern: "Bisher hatten viele Angst vor einem echten Neuanfang." Podemos sieht dafür jetzt eine echte Chance: "Heute ist ein historischer Moment für Spanien. Wir haben die Möglichkeit einer demokratischen Reinigung", forderte Carolina Bescansa, eine der Gründerinnen.
Aber ihre Partei, die 2014 aus dem Frust der Bevölkerung wegen Korruption und Haushaltskürzungen entstand, hat Sánchez nicht zum neuen Ministerpräsidenten gewählt. Bescansa betonte: "Wir haben Rajoy abgewählt." Denn auch die Sozialisten müssen sich wegen verschiedener Korruptionsfälle vor Gericht verantworten. Zum Zünglein an der Waage ist die baskische konservative Partei PNV geworden. Ihr Sprecher Aitor Esteban warnte den neuen Premier: "Wir erwarten von Ihnen, dass Sie sich dieser enormen Verantwortung bewusst sind und ihre Versprechen einhalten."