Der heißeste Sommer der Türkei liegt vor uns!
7. Mai 2019Seit Recep Tayyip Erdogan 1994 zum Bürgermeister von Istanbul gewählt wurde, hänge ich an seinen Fersen. Zu Beginn seiner politischen Reise sagte er wortwörtlich: "Die Demokratie ist für uns kein Endziel, sondern ein Mittel zum Zweck. Mit dem Zug der Demokratie fahren wir so lange wir können, und dann steigen wir irgendwann aus." Ich denke, dies war die aufrichtigste Bemerkung, die er jemals von sich gab.
Schließlich entschied er sich an der Haltestelle "politischer Islam" aus dem Demokratie-Zug auszusteigen. In den vergangenen 25 Jahren nutzte er zuerst alle Facetten der Demokratie. Anschließend vernichtete er alle Facetten der Demokratie: die Legislative, die Exekutive, die Judikative, die Medien, die Hochschulen, die Zivilgesellschaft und schließlich: die freien Wahlen.
"Alles gehört mir", sagte er und wurde zu einem Alleinherrscher.
Trotzdem ist das Kapitel der Demokratie noch nicht beendet. Obwohl Erdogan aus dem Zug ausgestiegen ist, fährt der Demokratie-Zug stetig weiter. Mal steht er, mal fährt er, manchmal liegen einige Hindernisse auf seinem Weg, aber irgendwie fährt er dann doch weiter. Man darf nicht vergessen: Mindestens die Hälfte der Gesellschaft steht hinter einer demokratischen, freien und laizistischen Türkei.
Die Opposition so stark wie noch nie
Dass Erdogan jetzt mit Hilfe unterwürfiger Richter die Istanbuler Bürgermeisterwahlen annullieren ließ, hat zu einem unerwarteten Ergebnis geführt: Die Oppositionsparteien haben zum ersten Mal ihre tiefen politischen Zerwürfnisse beiseite gelegt und eine Einheit gebildet. In dieser großen Koalition sind die Sozialdemokraten, die Sozialisten, Nationalisten und auch konservativ-religiöse Gruppen vereint. Diese Koalition respektiert und unterstützt den Wählerwillen an den Wahlurnen. Kein anderes Ziel, als der gemeinsamen Gegner Erdogan, konnte sie so zusammenbringen. Die von ihm eigens forcierte Polarisierung schlägt jetzt zurück - und zwar gegen ihn.
Investoren, Künstler, Juristen und vor allem Widersacher aus den AKP-Reihen, die bisher geschwiegen haben, reden jetzt. Die Menschen, die vorher geschwiegen haben, gingen auf die Straßen. Diejenigen, die Urlaub geplant haben, haben ihre Flüge storniert, um an den kommenden Neuwahlen im Juni teilnehmen zu können. Der 23. Juni - der Tag der Kommunalwahl in Istanbul - ist so etwas wie eine letzte Haltemöglichkeit vor dem Absturz der türkischen Demokratie.
Was passiert als nächstes?
Kann die Opposition, die die Istanbuler Kommunalwahlen gewonnen hatte, aber durch die Justizbehörden wieder verlor, unter diesen Umständen ihren Sieg wiederholen?
Für Optimismus ist es noch zu früh. Vor uns stehen noch sieben Wochen. Erdogan, den ich genau kenne, wird jede Möglichkeit nutzen, um die Wahlen nicht noch einmal zu verlieren.
Und es gibt ein Beispiel aus der Vergangenheit, das mich pessimistisch stimmt: Als Erdogan 2015 bei den Parlamentswahlen zum ersten Mal starke Stimmenverluste erlitt, schmiss er die Friedensverhandlungen mit den Kurden über den Haufen - und das Land stürzte ins Chaos. In diesem Sommer starben über 600 Menschen durch Terroranschläge. Er bot der Bevölkerung einen Ausweg aus dem Chaos. "Gebt mir 400 Sitze im Parlament (absolute Mehrheit), damit das Problem in Ruhe gelöst werden kann." Bei Neuwahlen erhielt er dann fünf Millionen zusätzliche Wählerstimmen und das Chaos war vorbei.
Diese Beispiele geben Hinweise darauf, was in der Türkei in den nächsten sieben Wochen passieren könnte. Er wird provozieren, dass wieder Särge ankommen. Särge, in denen Soldaten liegen, die im Kampf gegen die Kurdenmilizen ihr Leben ließen.
"Istanbul ist eine Treppe des Erfolges"
Die beiden Kandidaten der CHP und AKP liegen derzeit Kopf an Kopf. Aber AKP-Kandidat Binali Yildirim, der eigentlich für Macht steht, scheint fix und fertig. Der Kandidat der Opposition, Ekrem Imamoglu wiederum, zieht seine Jacket aus und rollt die Ärmel hoch. Der Mann, der Erdogan Istanbul aus der Hand nehmen möchte, glänzte während und nach der Kommunalwahlen vom 31. März. Durch sein Auftreten und sein Engagement ist er zu einem Polit-Star geworden.
Mit freundlicher Entschlossenheit stellt er sich dem wütenden Erdogan entgegen. Viele säkulare Kolumnisten sehen in Imamoglu bereits den zukünftigen Präsidenten der Türkei.
Istanbul ist wie eine Treppe des politischen Erfolges. Erdogans Karriere begann auf dieser Treppe, die er bis oben erklomm und dann wieder auf ihr herunter ging. Imamoglu ist ganz am Anfang, er bewegt sich stetig nach oben. Die beiden Männer treffen sich auf gleicher Höhe der Treppe. Sie treffen sich dort im heißesten Sommer der Türkei.
Die Türkei ist eine Wundertüte: Pessimismus und Hoffnung treten dort oft in ein Wechselspiel. Was überwiegt, das weiß keiner so richtig. Der Demokratie-Zug jedenfalls bewegt sich jetzt schneller - nachdem Erdogan ausgestiegen ist.
Der ehemalige Chefredakteur der Zeitung Cumhuriyet lebt im Exil in Deutschland.