Mehr Polizisten bringen nicht mehr Sicherheit
15. Juli 2016Deutsche Welle: Ist davon auszugehen, dass es sich bei dem jüngsten Blutbad in Nizza, bei dem ein LKW-Fahrer in eine Menschenmenge raste und mindestens 84 Menschen tötete, um einen Terroranschlag handelt?
Alexandra von Nahmen: Alle Hinweise und Augenzeugenberichte gehen in diese Richtung. Es wird deutlich, dass der Fahrer offenbar mit Absicht in die Menschenmenge hineingefahren ist und dass es sich dabei nicht um einen Unfall handelt, vor allem auch, weil er das Feuer eröffnet hat. Er wollte offensichtlich mit Absicht Menschen töten.
Gibt es Hinweise, dass die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) oder Al-Kaida dahinter stecken könnten?
Bisher gibt es noch von keiner Organisation eine Bekennerbotschaft auf den üblichen Kanälen in den sozialen Medien. Auf manchen IS-Kanälen wird diese Tat aber schon gefeiert. Dort rufen IS-Sympathisanten dazu auf, die Hashtags auf Twitter, die es jetzt nach Nizza gibt, also #Nizza oder #PrayForNice, zu missbrauchen. Obwohl es derzeit noch kein Bekennerschreiben gibt, wissen wir, dass der sogenannte "Islamische Staat" in der Vergangenheit dazu aufgerufen hat, Fahrzeuge für mögliche Anschläge zu benutzen. So hat der IS-Sprecher Mohammed al-Adnani bereits im September 2014 dazu aufgerufen, nicht nur Waffen, Messer und Steine zu benutzen, um Ungläubige zu töten, sondern auch Fahrzeuge. Kurz nach dieser Botschaft hat es solch einen Anschlagsversuch mit einem Auto in Kanada gegeben. Daraus kann man natürlich zum jetzigen Zeitpunkt nicht schließen, dass der IS hinter der Tat in Nizza steckt, dazu ist es noch zu früh. Aber wir wissen etwa durch die letzten Anschläge in Orlando, dass es auch Täter gibt, die nicht direkt auf Befehl einer Terrororganisation handeln, sondern sich von solcher Propaganda inspirieren lassen.
Seit den islamistischen Anschlägen von Paris im November 2015 hat Frankreich landesweit den Ausnahmezustand verhängt. Wie konnte der Anschlag von Nizza trotz der strengen Sicherheitsvorkehrungen passieren?
Das ist die große Frage: Wie konnte es dazu kommen, dass ein Lastwagen in der Menschenmenge, die den Nationalfeiertag feiern wollte, überhaupt auftauchen konnte? Dieser Frage werden die Behörden nun nachgehen. Die Sicherheitskräfte sind nicht nur in Paris, sondern auch in anderen Städten in erhöhter Alarmbereitschaft. Aber man muss auf der anderen Seite auch sagen, dass sich solche Veranstaltungen, wo sich große Menschenmengen versammeln, nicht immer hundertprozentig schützen lassen.
Lässt sich ein derartiger Anschlag durch einen LKW denn überhaupt verhindern?
Das kommt darauf an. Bei Großveranstaltungen kann man natürlich durchaus Straßen absperren und Polizeikräfte so postieren, dass es nur schwer möglich ist, mit einem LKW dort durchzufahren. Das wird ja auch gemacht. Wenn es allerdings darum geht, eine normale Fußgängerzone zu schützen, in der einfach nur Menschen einkaufen gehen, ist das nicht möglich. Wenn jemand auf die Idee kommt, seinen Wagen als eine Waffe zu benutzen, wird dies sicherlich nicht immer zu verhindern sein. Bei künftigen Großveranstaltungen werden sich die Sicherheitskräfte auf diesen Fall nun sicherlich noch stärker vorbereiten müssen.
Welche Auswirkungen hat dieser erneute Schock nun für die Sicherheitslage in Frankreich?
Das ist im Moment noch nicht so einfach abzusehen. Erst vor wenigen Wochen hat eine interne parlamentarische Kommission ihren Bericht zu den Maßnahmen, die nach den Terroranschlägen im November des vergangenen Jahres ergriffen wurden, veröffentlicht. Da war das Fazit nicht positiv. Man hat zum Beispiel bemängelt, dass die Sicherheitsmaßnahmen nicht so wirkungsvoll sind. Das bedeutet, dass sich Sicherheit eben nicht durch noch mehr Sicherheitskräfte und Polizisten erhöhen lässt. Auch fehlender Austausch der Behörden untereinander wurde kritisiert. Nun wird die Kritik an der französischen Sicherheitsstrategie sicherlich weiter wachsen. Es bleibt abzuwarten, welche Schlüsse die Sicherheitsbehörden nun aus diesem offensichtlichen Anschlag ziehen werden.
Alexandra von Nahmen ist Terrorismusexpertin der Deutschen Welle
Das Gespräch führte Vera Kern.