Dunkle Zeiten für die Türkei
29. Juli 2015Nach einer Woche der Gewalt zwischen der Türkei und der kurdischen Arbeiterpartei PKK, mit Luftangriffen auf kurdische Stellungen im Nordirak, kam die Stellungnahme von Präsident Recep Tayyip Erdogan nicht überraschend. Doch was danach kam, überraschte schon. Erdogan empfahl, die Immunität kurdischer Parlamentarier aufzuheben, um nach möglichen "Verbindungen zum Terrorismus" zu suchen.
"Wenn [Präsident Erdogan] sagt, dass die Leute von der HDP [der prokurdischen Volksdemokratischen Partei] Terroristen sind, dann sind die Leute von der AKP [die Regierungspartei, der auch Erdogan angehört], die seit langem die IS-Terrormiliz unterstützt, genauso Terroristen", sagt der 23-jährige Burak, während er Wassermelonen mit Käse isst.
Der junge Kurde frühstückt gerade mit seinen Freunden in dem Café, in dem er arbeitet, kurz bevor die Kunden hereinströmen. Das Kaffeehaus ist ein beliebter Treffpunkt in diesem belebten Teil von Istanbul. Die leuchtenden rot-orangenen Tischtücher sind verziert mit geometrischen Mustern, die häufig im kurdischen Südwesten der Türkei zu sehen sind. Die Menschen kommen oft auf einen cremig-nussigen kurdischen Kaffee hierher.
"Letzte Woche haben wir 30 junge Menschen verloren, bei einem Bombenanschlag, den die Regierung zugelassen hat", sagt Mert, ein stiller junger Mann und ein Freund von Burak. Der 22-Jährige stochert mit der Gabel in seinem Frühstück, während er über den Selbstmordanschlag von Suruc spricht. Der Anschlag richtete sich gegen eine Gruppe junger Aktivisten, die beim Wiederaufbau der kurdischen Stadt Kobane in Syrien helfen wollten. "Die Polizei steckt hinter dem Anschlag", sagt Mert, bevor Burak ihn unterbricht: "Nein, es ist die AKP, es ist die Regierung."
Zwei Seiten einer Medaille
Für die jungen Männer sind die Terromiliz "Islamischer Staat" und die türkische Regierung zwei Seiten einer Medaille. Sie sind nicht die einzigen, die das glauben. Die PKK, die lange mit Gewalt für die Autonomie der Kurden in der Türkei gekämpft hat, 2013 jedoch einem Waffenstillstand zustimmte, tötete aus Vergeltung für den Anschlag von Suruc zwei Polizisten.
"Damit hat die PKK der Regierung den Grund geliefert, militärisch gegen sie vorzugehen", sagt der Politikwissenschaftler Mehmet Ali Tugtan. "Sie reagiert nicht einfach auf eine Katastrophe, sie schlägt Profit daraus." In der vergangenen Woche flog die Türkei erstmals Luftangriffe auf Stellungen des IS. "Die Regierung ist konsequent, wenn sie sagt: 'Wir wurden vom IS angegriffen, deshalb schlagen wir zurück; wir wurden von der PKK angegriffen, deshalb schlagen wir zurück'."
Ayub Nuri, Redakteur der kurdischen Nachrichtenwebseite Rudaw.net stimmt zu. Das Problem sei allerdings, dass die türkische Regierung nicht zwischen der PKK auf der einen und der kurdischen Zivilgesellschaft, kurdischen Politikern, Journalisten oder Intellektuellen auf der anderen Seite unterscheide. "Das ist schon lange so – sogar schon vor den Friedensverhandlungen. Kurdische Politiker, Intellektuelle oder Journalisten werden wegen Verbindungen zum Terrorismus angeklagt und landen im Gefängnis", erklärt er. "Auf der anderen Seite sagen kurdische Abgeordnete: 'Die PKK ist eine bewaffnete Gruppe in den Bergen, wir aber sind vom Volk gewählt' und versuchen sich so von der Organisation zu distanzieren."
Die Inititative zurückerlangen
Viele vermuten hinter Erdogans Angriffen auf kurdische Parlamentarier einen Versuch, die Mehrheit für die AKP im Parlament zurückzugewinnen. Rudaw.net, die Seite, für die Nuri arbeitet, erhält Kommentare von Kurden auf der ganzen Welt. "Etwa 60 bis 70 Prozent unserer Leser glauben, dass Erdogan mit den Luftschlägen und seinen Kommentaren auf die Wahlen im Juni reagiert", sagt Nuri. Bei den Wahlen verlor die AKP zum ersten Mal ihre Parlamentsmehrheit seit sie 2002 an die Macht kam. Die prokurdische HDP zog mit 13 Prozent der Stimmen ins Parlament ein. Nach Erdogans Stellungnahme sagte der Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtas: "Wir haben keine unentschuldbaren Verbrechen begangen. Unser einziges Verbechen war, dass 13 Prozent der Wähler für uns gestimmt haben."
Die Parlamentswahlen von 7. Juni waren historisch: Keine prokurdische Partei hatte jemals zuvor die in der Türkei übliche 10-Prozent-Hürde - die höchste der Welt – genommen. "Die HDP hat die wichtigste Rolle beim Verlust der AKP-Mehrheit gespielt", sagt Tugtan. Weil keine Partei über eine absolute Mehrheit verfügt, sind die Politiker gezwungen, Koalitionsverhandlungen zu führen. Die Frist zur Regierungsbildung läuft bald ab. Dann kann Erdogan Neuwahlen ausrufen.
Neuwahlen mit ungewissem Ausgang
Inmitten der Anschuldigungen gegen die HDP, Verbindungen zu Terrorgruppen zu haben, könnte eine Neuwahl völlig anders ausgehen. "In diesem Szenario könnte die HDP so viele Stimmen verlieren, dass sie nicht mehr ins Parlament einzieht", sagt Tugtan. Allerdings bestehe die Sorge, dass dies noch mehr Gewalt auslösen könnte, ähnlich wie in den 1990er Jahren, als die PKK für die Unabhängigkeit der Kurden kämpfte. "Wieder einmal haben wir eine Krise bei einem Machtwechsel. Egal, was man über die Reife der türkischen Demokratie denkt, der Machtwechsel bleibt ein Problem", so der Politologe.
Nuri glaubt nicht an einen Rückfall in alte Zeiten. "Eine sehr kleine Minderheit fordert eine direkte Revolte gegen die Türkei und will einen bewaffneten Konflikt", sagt er. "Ich glaube, die Mehrheit will Frieden", lokale Politiker und die Führung der Autonomen Region Kurdistan im Irak eingeschlossen.
Mert hingegen ist nicht so optimistisch. "Wenn es die HDP bei Neuwahlen nicht ins Parlament schafft, könnte es einen Bürgerkrieg geben", sagt er. Hassan, der Mert gegenüber sitzt, sagt: "Es könnte sogar schlimmer als in den 1990ern werden – es ist jetzt viel mehr los hier." Damit meint er das Übergreifen der Gewalt in Syrien auf die Türkei.
Die Familien von Burak, Mert und Hassan kamen vor mehr als zehn Jahren aus dem Südwesten der Türkei nach Istanbul, um der Instabilität und der Gewalt zu entfliehen. "Wenn es einen Bürgerkrieg gibt, wo sollen wir dann hin?", fragt sich Hassan.