Du sollst dir (k)ein Bild machen!
17. Februar 2024Was für beeindruckende Bilder! Die Demonstrationen im Land für Menschlichkeit und Demokratie, an denen insgesamt schon viele Hunderttausende teilgenommen haben, erhalten viel Aufmerksamkeit und bleiben in Erinnerung. Gut so! Was wären Nachrichten ohne Bilder? Der Torjubel bei der WM. Der Papst grüßend auf dem Balkon des Petersdoms nach seiner Wahl. Der vom Künstlerehepaar Christo und Jeanne-Claude verhüllte Reichstag in Berlin. Die brennenden Twintower bei den Anschlägen vom 11. September. Das am Strand angespülte ertrunkene Flüchtlingskind Alan Kurdi. Das Hochwasser an der Ahr. Oder eben die Demonstrationen für das gesellschaftliche Miteinander. Viele wollen sich ein Bild machen – oder wenigstens Bilder sehen, wenn sie schon selbst nicht vor Ort sind: von den schönen Ereignissen und von den schrecklichen. Und auch Texte können Bilder im Kopf entstehen lassen.
Zwischen informiertem Interesse und Voyeurismus
Der Grat zwischen einem informierten Interesse und Voyeurismus ist da schmal. Rettungskräfte haben oft damit zu kämpfen, dass Gaffer die ohnehin schwere Arbeit behindern. „Schaulustige“, wie das früher mal genannt wurde, sind das nicht. Die Lust am Leid ist pervers. Aber die Kamera am Handy ist eben schnell eingeschaltet. Da macht es technisch keinen Unterschied, ob ich das Mittagessen oder einen Unfall fotografiere und online hochlade.
Journalistinnen und Journalisten, deren Aufgabe es ist, das Geschehene professionell zu berichten, müssen sich immer wieder fragen: Wo bleibt die Menschenwürde, wenn Not und Leid im Zoom gezeigt werden? Andererseits wissen nicht nur Hilfswerke, dass die dringend benötigten Spenden steigen, wenn das Leid durch Hungersnöte, Naturkatastrophen oder Unglücke nicht nur abstrakt thematisiert wird. Das menschliche Bedürfnis, sich ein Bild zu machen - Bilder zu sehen – ist immer dabei.
Sich ein Bild machen, um der Realität näher zu kommen
Die in der Notfallseelsorge Engagierten berichten, dass sie Angehörigen auch bei schweren Unfällen und Katastrophen anbieten, die Verstorbenen noch einmal zu sehen. Sie wissen, dass das Ausmalen im Kopf oft noch dramatischer und grausamer ist, als sich selbst ein Bild zu machen: Den verunglückten Angehörigen nochmal mit eigenen Augen zu sehen, ihm nah zu sein, ihn zu berühren: Das kann helfen, den Schmerz zu bewältigen. Sich ein realistisches Bild der Lage zu machen, kann Horror-Phantasien eingrenzen. Sich selbst ein Bild zu machen, kann helfen.
Manchmal führt das Bedürfnis nach Bildern aber auch dazu, dass falsche entstehen, dass es Fakes gibt. Ohnehin können Bilder nur einen Ausschnitt der Realität zeigen und müssen dann in einen Zusammenhang eingeordnet werden. Wie sich die Künstliche Intelligenz und die damit generierten Fake-Bilder auf die Politik, auf das menschliche Verstehen und Handeln auswirken werden, wie Glaubwürdigkeit erhalten bleiben kann, steht noch am Anfang. Die Macht der Bilder haben auf jeden Fall auch die erkannt, die damit bewusst manipulieren wollen. Da ist Vorsicht mit Bildern geboten.
Kein Bild machen – aber selbst Bild sein!
Du sollst dir kein Bild machen, heißt es in der Bibel. KI-generierte Fake-Bilder hat sie damit nicht im Visier. Und selbst wenn es so klingen könnte: Es geht auch nicht um ein Nachrichtenverbot oder darum, sich kein Bild der Lage zu machen, keine Meinung oder Vorstellung zu haben von Gott und der Welt - und nur blind und abstrakt zu glauben. Die Bibel ist selbst voll von Bildern und Gleichnissen - auch zu Gott. Weil sie das vorstellbar machen, was sonst allzu abstrakt wäre. Aber Gott ist kein Gegenstand. Seine Wirklichkeit ist größer als das, was wir uns von ihm zurechtlegen können, größer als unser gemachtes Bild von ihm.
Das, was in der Bibel steht, will selbst die „Gute Nachricht“ sein. Und die gute Nachricht ist dabei auch: Gott ist Mensch geworden. Er nimmt in Jesus Christus menschliche Gestalt an, wird greifbar und sichtbar. Und: Der Mensch ist als Ebenbild Gottes geschaffen. Wer sich also ein (annäherndes) Bild von Gott machen will, der findet ganz viele Puzzleteile und Mosaiksteinchen davon vor sich: in den Mitmenschen und in sich selbst. Und auch wenn dieses große Puzzle und Mosaik hier auf Erden nie vollendet wird: Ich selbst und jeder und jede kann zu dieser guten Nachricht die passenden Bilder liefern, zu diesem Gesamtbild beitragen. Und dann gibt es sie, die beeindruckenden Bilder mit Spuren von Gottes Gegenwart in der Welt von heute.
Zum Autor:
Michael Kinnen, geboren in Saarbrücken, unterwegs zwischen Saar, Mosel, Rhein und Spree; studierte Theologie und Medienwissenschaften und absolvierte die studienbegleitende Journalistenausbildung an der Katholischen Journalistenschule ifp in München sowie eine Ausbildung zum PR-Berater; für "Kirche im Radio" ist er auf der Suche nach Gottes Spuren im Alltag - in verschiedenen öffentlich-rechtlichen und privaten Sendern zu hören: "Gott in Einsdreißig".
Dieser Beitrag wird redaktionell von den christlichen Kirchen verantwortet.