Wird die Lage in Griechenland eskalieren?
28. Oktober 2019"Mama Rosa, bitte, lass mich noch dran. Heute Abend Game!‘", bettelt ein junger Afghane. Mama Rosa, so kennt man Rose Hansen in der Geflüchteten-Community von Thessaloniki. Eigentlich ist sie streng, wenn es um die Sprechzeiten geht. Bis sechs Uhr stehen sie und ihr medizinisches Fachteam bereit und versorgen Flüchtlinge. Seit 2017 parkt sie ihren Krankenwagen mit Hamburger Kennzeichen in der Nähe des Bahnhofs. Für den jungen Afghanen macht sie heute eine Ausnahme. Denn mit ‚Game‘ meint der junge Mann nicht etwa Sport. Bei den Afghanen bedeutet das englische Wort: Heute versuchen wir die Grenze nach Nordmazedonien oder Albanien zu passieren. Er bekommt Tabletten und wird sich später auf den Weg machen.
"Thessaloniki ist eine Transitstadt. Niemand will hier bleiben. Die Grenzen sind nicht weit entfernt", erklärt Hansen. Auch deswegen sei die Gegend um den Bahnhof ein Sammelpunkt für Geflüchtete auf der Durchreise. Hauptsächlich versorgen sie und ihr Team Blasen und infizierte Mückenstiche. Zu Fuß kämen die Männer aus der Türkei, überquerten illegal die Grenze und seien oft tagelang unterwegs. "Unter den schlechten hygienischen Bedingungen können Blasen und Insektenstiche schnell zu einem ernsten Problem werden", weiß die gelernte Krankenschwester.
Neue Regierung, härtere Handhabung
Vor ein paar Wochen begann man damit, Geflüchtete aus den völlig überfüllten Hotspots in Samos und Lesbos auf kleinere Lager in Nordgriechenland zu verteilen. Dies sei nichts Neues, sondern geschehe schon seit 2016, erklärt der Anwalt Vasilis Chronopoulos: "Das ist aus humanitären Gründen unbedingt erforderlich. Doch auch die Lager im Inland stoßen an ihre Grenzen."
"Mit den vielen neuen Geflüchteten, die in diesem Sommer nach Griechenland gekommen sind, sind wir praktisch wieder bei den Zahlen von 2016 angekommen", so Chronopoulos. Hinzu komme ein anderes Problem: "Die Bedingungen der Camps sind nicht gut. Und es stellt sich die Frage, ob sie für den kommenden Winter geeignet sind." Generell sei die Situation unsicher: "Die Geflüchteten fühlen sich in einer Sackgasse. Sie wollen nicht in Griechenland bleiben." Obwohl das System gewisse Leistungen biete, fühlen sich die Asylsuchenden auf sich selbst gestellt.
Für Rose Hansen stellt sich hingegen die Frage, ob die Leistungen tatsächlich angemessen sind. Seit Juli regiert in Athen eine konservative Regierung. Bereits im Wahlkampf hatte der neue Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis ein härteres Durchgreifen versprochen - und scheint zumindest auf den ersten Blick sein Wort zu halten. "Seit Mitsotakis regiert, bekommen die Geflüchteten keine AMKA mehr", erklärt sie. Mit der griechischen Sozialversicherungsnummer hätten die Menschen zuvor Anspruch auf kostenlose medizinische Versorgung gehabt. Die sei ihnen nun genommen worden und dies sei illegal, erklärt die Hamburgerin. Und noch etwas beobachtet sie bei ihrer Arbeit: "Seit dem Regierungswechsel haben wir vermehrt Menschen versorgt, die misshandelt wurden." Viele Geflüchtete berichten von Polizeigewalt, auch von griechischer Seite.
Gestrandet und vergessen
Aktuell sind es vor allem allein stehende junge Männer, die in Griechenland ankommen. Sie kommen aus Afghanistan, Pakistan, dem Irak, Syrien und auch aus Nordafrika. Es sind jene Geflüchtete, die niemand haben will und die man auch in Deutschland als Bedrohung ansieht. Rose Hansen hat keine Probleme mit ihnen, auch wenn die Mutter zweier Töchter Verständnis hat für Menschen, die Angst haben. Mit ein paar Brocken Arabisch und Persisch sorgt sie für Ruhe, wenn es mal zu Streitigkeiten kommt. Mit einer Mischung aus mütterlicher Zuneigung und klaren Grenzen hat sie sich Autorität verschafft.
Doch nicht nur die Geflüchteten fühlen sich allein gelassen, sondern auch viele Griechen. Vor ein paar Tagen errichteten die Bewohner des kleinen Dorfs Vrasna Paralia in Nordgriechenland Barrikaden. Hier wohnt auch Sultana Kluck, eine Griechin, die über 40 Jahre in Stuttgart gelebt hat: "Unser Dorf hat 100 Einwohner und hier leben 1.500 Geflüchtete. Jetzt wollten sie uns noch einmal Busse mit 2.000 neuen Geflüchteten bringen", erklärt sie mit schwäbischem Akzent. Die Lage im Dorf sei zunehmend angespannt. Sie habe Verständnis für die Situation der Menschen, doch so ginge es nicht weiter.
Von Eskalation will Sultana Kluck trotzdem nicht sprechen. Viele Menschen in Vrasna Paralia hätten ein gutes Verhältnis zu den Geflüchteten. "Wir haben Kleidung, Essen und Fahrräder gespendet. Und wir haben einen Supermarkt mit Halal-Produkten eröffnet." Doch inzwischen bleiben in dem Touristenort die Besucher aus. Ein paar Hotelbesitzer hätten eine halbe Million Euro kassiert und würden so gute Geschäfte damit machen, die Geflüchteten dauerhaft unterzubringen, während den übrigen Hotels die Kunden ausblieben. "Es können doch nicht alle Geflüchteten in Griechenland bleiben", sorgt sich Sultana Kluck.
Türkei-Deal faktisch unwirksam
Ähnlich sieht das auch Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis. In Kürze soll ein Gesetz zur Reformierung der Asylrechts verabschiedet werden. Das Versprechen: das Verfahren der Asylanträge soll beschleunigt werden. Eigentlich müsste ein Antrag innerhalb von sechs Monaten bearbeitet werden. Viele Geflüchtete aber warten bereits zwei Jahre. Laut dem Deal, den die EU mit der Türkei geschlossen hat, würden abgelehnte Asylbewerber zurück in die Türkei geschickt.
Athen wolle die Asylgesetze härter gestalten und mehr kontrollieren, erklärt Vasilis Chronopoulos. Dies aber sei kritisch: "In der Regel verlangsamen sich Vorgänge, wenn man neue Prozesse hinzufügt. Neben Anträgen in zweiter Instanz müssen sich die Agenturen derzeit um 90.000 Anträge kümmern. Es bringt herzlich wenig, sich über die Geschwindigkeit seines Autos Gedanken zu machen, wenn man im Stau steht."
Auch der Vision vom alles lösenden Türkei-Deal sei ausgeträumt. Eine Vogelscheuche verursache so lange Angst, bis die Vögel sich an sie gewöhnt hätten, so Chronopoulos: "Die Abmachung hat nach dreieinhalb Jahren ihre Wirksamkeit verloren. Die Geflüchteten kennen nun die Schmerzen, die sie verursacht." Sie würden trotzdem kommen.
Rose Hansen kann das bestätigen. Täglich behandelt sie neue Geflüchtete auf ihrem Weg nach Westeuropa. Der Ton unter ihnen sei rauer geworden, die Stimmung gespannt. Für Mama Rosa ein Resultat der herrschenden Unsicherheit. Noch ist die Lage in Griechenland nicht eskaliert, doch der Druck auf die EU steigt.