Dreißig Jahre nach der Sowjetunion
26. Dezember 2021Das Bild ging um die Welt: Drei Staatsmänner aus Russland, der Ukraine und Belarus unterschreiben den Vertrag von Minsk, ein Dokument über die Auflösung der UdSSR. Boris Jelzin, Leonid Krawtschuk und Stanislaw Schuschkewitsch stellen damit einem Staat den Totenschein aus, dessen Herz bereits früher aufhörte zu schlagen. Am letzten Tag des Jahres 1991 wird die rote Fahne über dem Kreml in Moskau eingeholt. Fast siebzig Jahre nach ihrer Geburt ist die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken offiziell tot.
Die historischen Bilder kennen junge Menschen nur aus alten Chroniken: zum Beispiel die Estin Pille Maffucci, der Russe Igor Tischkowetz, der Georgier Irakli Rusadze und der Ukrainer Sergej Sobol. Sie waren damals gerade erst geboren oder noch sehr klein. Aber sie alle haben trotzdem ein sehr persönliches Verhältnis zur untergegangenen Sowjetepoche.
Igor aus Nowosibirsk
"Ich bin kein Anhänger der Sowjets", stellt Igor Tischkowetz klar. "Ich bin russisch-orthodoxer Christ. Ich trauere der Sowjetepoche nicht nach. Ja, es war eine große stolze Zivilisation, aber ihre Ideen teile ich nicht."
Dass diese Lebensform zu Ende ging, findet Igor trotzdem schade. Er liebt seine Heimat, die sibirische Metropole Nowosibirsk, die auch heute noch für die sogenannten Errungenschaften des Sozialismus steht: große Industriebetriebe und Wissenschaftszentren. Doch die kommunistische Ideologie, die den Russen jahrzehntelang aufgezwungen wurde, ist Igor fremd. Seine Ideen kreisen vielmehr um ein streng konservatives Russland, dessen Stärke in Gott liege statt wie früher in Lenin. Russland sei ein konservatives Land, sagt Igor Tischkowetz, in dem Werte wie Familie, Gottesliebe und Hierarchie wichtiger seien als Demokratie und Meinungsfreiheit.
Nur die Hälfte der Bevölkerung befürwortet laut Umfragen eine Demokratie. Viele Russen wünschen sich ein straff geführtes politisches System wie einst zu Sowjetzeiten. Auch Igor Tischkowetz: "Demokratie ist eine große Fiktion. Wir Russen glauben nicht an die echte Macht des Volks. Wir halten nichts von einem demokratischen Machtübergang. Stattdessen brauchen wir einen starken Führer, an den wir glauben."
30 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion ist Russland wirtschaftlich kein schwaches Land. Aber die Kluft zwischen arm und reich wird immer größer. Rund 20 Millionen Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze. Für Igor Tischkowetz ist das trotzdem kein Grund zur Sorge: "Für mich ist die ideologische Stärke wichtiger als der wirtschaftliche Wohlstand. Den verdiene ich mir schon selbst - ohne Staat."
Und zwar als Hochzeits-DJ. Umgerechnet 1000 Euro im Monat bekommt Igor für seine Auftritte. In Sibirien zählt er damit zu den Gutverdienern. Igor Tischkowetz ist überzeugt, dass Russland heute ein Land der vielen Möglichkeiten ist - für Menschen, die wissen, was sie wollen und die Politik nicht hinterfragen.
Irakli aus Tiflis
In wenigen Wochen zeigt Irakli Rusadze seine neueste Kollektion auf der Fashion Week in Paris. Der 30-jährige Georgier ist Modedesigner - und in seiner Mode präsentiert er die Identität seines Volks, sagt er: "Ich finde Ideen und Inspiration in unserer Geschichte, in der sowjetischen, in der vorsowjetischen, aber auch in der postsowjetischen Zeit. Ich verbinde diese Epochen."
Im Hosenanzug zum Beispiel, einem der Hits der Herrenmode in der Sowjetunion. Heute nutzt ihn Irakli als Grundlage für seinen eigenen Kleidungsstil und als Erinnerung an die Zeit, in der Georgier kaum Kontakte zur Außenwelt hatten und isoliert hinter dem Eisernen Vorhang lebten.
"Alles begann nach 1991, sich zu verändern", erzählt Irakli. "Da wurde ich gerade geboren. Aber trotz der neuen Ära war die Sowjetunion hier noch überall präsent. In den vielen sowjetischen Gebäuden zum Beispiel, aber auch in den Gesprächen der älteren Menschen. Das finde ich sehr authentisch und das reizt mich auch als Modedesigner."
Die Zeit nach dem Zusammenbruch der UdSSR war für Georgien nicht einfach. Der Aufbau eines unabhängigen Staates wurde begleitet von einer Wirtschaftskrise und von politischen Turbulenzen. 2003 gingen die Georgier auf die Straße. Eine neue prowestliche Regierung kam an die Macht. Seitdem wird der kaukasische Staat vom Machtkampf weniger Oligarchen und Familienclans erschüttert.
Im Stadtteil Didi Digomi in der georgischen Hauptstadt Tiflis ist die Zeit stehengeblieben. Das sowjetische Tiflis ist noch deutlich zu spüren. Vor allem die Älteren schwärmen von der alten guten Sowjetepoche, vom Sozialismus, in dem es Arbeit für alle und kostenlose Behandlung in Krankenhäusern gab. Doch die meisten jungen Georgier ticken längst anders, sagt Irakli Rusadze: "Ich denke, dass kreative und fortschrittliche Menschen in der UdSSR keine großen Chancen hatten. Sie waren in ihrer Freiheit stark eingeschränkt. Heute haben wir Georgier die Möglichkeit, das alles nachzuholen." Allerdings, schränkt der Designer ein, gäbe es "noch vieles, was Georgien von Europa trennt. Es wäre aber großartig, wenn mein Land irgendwann ein vollwertiger und würdiger Teil von Europa wäre."
Pille aus Narwa
Pille Maffucci eilt zu ihrer Theaterprobe. Zweimal die Woche probt die Estin auf einer kleinen, aber technisch sehr modernen Bühne in Narwa an der Grenze zu Russland. Das Theater ist Teil eines Integrationszentrums, eines Ortes, in dem nicht nur zwei Nationen aufeinandertreffen, sondern zwei Welten: Esten und Russen.
In dem Stück geht es um das Schicksal der russischsprachigen Minderheit, die im baltischen Staat gesellschaftlich nicht ankommt, obwohl sie hier seit Jahren lebt, erzählt Pille Maffucci. Denn es sind nicht nur die sprachlichen, sondern auch die kulturell-historischen Barrieren, die beide Völker noch immer trennen.
Estland wurde schon kurz vor dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums ein unabhängiger Staat. Heute ist das Land Mitglied in der EU und der NATO. Die Regierung gehört zu den schärfsten Kritikern russischer Politik.
Die Sowjetzeit belastet die Beziehungen zwischen der estnischen Mehrheit und der russischen Minderheit. Pille Maffucci ist eine von denen, die versuchen, das zu ändern. Vor drei Jahren zog die Estnisch-Lehrerin aus der Hauptstadt Tallinn nach Narwa und war erstaunt: "In Narwa leben nur vier Prozent Esten. Der Rest sind Russen. Ich fühle mich schon seltsam: als Minderheit im eigenen Land. Als wäre ich gar nicht in Estland, sondern irgendwo im Ausland."
Für Pille ist die Integration der Russen eines der dringendsten sozialen Probleme in Estland. Seit dreißig Jahren bekommen viele von ihnen keinen estnischen Pass, vor allem, weil sie dafür Estnisch können müssen. Das betrifft etwa 70.000 Menschen, die weder wählen noch im öffentlichen Dienst arbeiten dürfen. Dennoch glaubt Pille Maffucci an die gemeinsame Zukunft von Esten und Russen - an Liebe statt Hass.
Sergej aus Perschotrawensk
"In der Sowjetunion ging es uns Bergleuten super", schwärmt Sergej Sobol. "Damals war die Ukraine reich. Da konnte jeder Bergmann aus dem Osten mal eben nach Lwiw fliegen und dort einmal ein schönes Wochenende verbringen." Die Zeit nach dem Zerfall der Sowjetunion sieht er dagegen kritisch: "In den Jahren der Unabhängigkeit wurde unser Land ausgeplündert und heruntergewirtschaftet. Wir hatten bisher keine vernünftige Staatsführung."
Sergej Sobols Arbeitsplatz befindet sich dreihundert Meter unter der Erde. "Es war, ist und bleibt gefährlich unter Tage", sagt der 35-Jährige. "Hauptsache, wir bleiben sicher, machen unseren Job und kommen heil wieder nach Hause."
Wir - das sind knapp 300 Männer, die rund um die Uhr in der Grube Stepnaja Kohle fördern. Sergej ist stolz auf seine Arbeit. Die Stepnaja gibt es seit über 50 Jahren. Eine Mine, die den Zerfall der Sowjetunion überlebte und in der die Mitarbeiter regelmäßig Lohn bekommen - in der Ostukraine keine Selbstverständlichkeit. Im Durchschnitt verdienen die Kumpel von Stepnaja umgerechnet 800 Euro im Monat. Für die arme Gegend hier ist das gutes Geld.
Sergej Sobol kommt aus dem Donbass, wo seit 2014 Krieg herrscht zwischen den prorussischen Separatisten und der ukrainischen Armee. Heute lebt er im kleinen Bergarbeiterort Perschotrawensk im ukrainischen kontrollierten Gebiet. "Ich wollte nicht, dass mein Kind dort zur Welt kommt, wo man um seine Familie Angst haben muss, wenn man zur Arbeit geht. Wo ständig Bomben hochgehen", erklärt Sergej Sobol.
Der Krieg im Donbass dauert schon sieben Jahre. Mehr als 13.000 Menschen sind UN-Angaben zufolge bisher gestorben. Ein Konflikt, der trotz eines Friedensabkommens immer wieder aufflammt und auch jetzt angesichts des russischen Truppenaufmarsches an der Grenze zur Ukraine die Welt in Atem hält.
Die meisten Minen liegen in den von Separatisten kontrollierten Gebieten. Von den wenigen restlichen Bergwerken gilt nur eine Handvoll als rentabel. Darunter auch die Stepnaja. Aber selbst hier soll in drei Jahren Schluss sein. Die Ukraine will aus der Kohleindustrie aussteigen. Das Schicksal tausender Familien, die davon leben, ist ungewiss. Dennoch lässt sich Sergej Wut und Resignation nicht anmerken. Er hofft, dass vielleicht doch nicht alle Gruben geschlossen werden und er eine Arbeit in einem anderen Bergwerk findet. Illusionen von einem reichen Bergarbeiterleben wie zu Sowjetzeiten hat er nicht. Die Zeit 30 Jahre zurückdrehen, in die Ära der Sowjetunion, will er aber auch nicht.
Igor, Irakli, Pille und Sergej sind Protagonisten der DW-Produktion "Generation Aufbruch. Dreißig Jahre nach den Sowjets", die im TV-Magazin der Deutschen Welle "Fokus Europa" ausgestrahlt wurde.