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"Grundgesetz als Inbegriff guter politischer Ordnung"

Volker Wagener 22. Mai 2014

Das deutsche Grundgesetz wird 65. Es ist das juristische Regelwerk der Bundesrepublik. Seit der deutschen Einheit gilt es auch für den Osten Deutschlands. Und es hat sich bewährt, urteilt Staatsrechtler Horst Dreier.

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Horst Dreier Uni Würzburg Archiv 2008
Bild: picture-alliance/dpa

Herr Dreier, das Grundgesetz, 1949 für die junge Bundesrepublik geschaffen, galt wegen der deutschen Teilung lange als Provisorium. Wann verlor diese Quasi-Verfassung ihren Übergangsstatus?

Horst Dreier: Der Übergangsstatus hat sich immer auf den räumlichen Aspekt bezogen. Das heißt, die Väter und Mütter des Grundgesetzes hatten schon die Vorstellung, dass sie eine Vollverfassung schaffen und insofern eigentlich kein Provisorium. Aber sie hatten die Hoffnung, dass es über eher kurze zeitliche Distanz zu einer Wiedervereinigung Deutschlands kommen würde. Und für diesen Fall war den Vätern und Müttern des Grundgesetzes vollkommen klar, dass man dann eine neue Verfassung würde schaffen müssen. Das hat sich nun aber anders entwickelt, wie wir wissen. Die Wiedervereinigung kam nicht, wie man damals vielleicht gedacht hatte, nach fünf oder maximal zehn Jahren, sondern sie kam erst nach 40 Jahren. Und da hatte sich das Grundgesetz in einer Weise entwickelt und bewährt, war auch verankert in der Bevölkerung und in der Politik, dass die ursprünglich selbstverständliche Vorstellung, jetzt sogleich eine neue Verfassung schaffen zu müssen, an Überzeugungskraft verloren hatte.

Das Grundgesetz blieb, ohne dass die Bevölkerung der DDR an einer gesamtdeutschen Verfassung hat mitschreiben können. Warum? Veränderungsvorschläge gab es nach der Wende mehr als 700.000.

Also, um historisch fair zu sein, müsste man im Grunde genommen sagen, die westdeutsche Bevölkerung hatte 1948/49 auch wenig Chancen zur direkten Mitwirkung. Von der Sache her hätte es in der Tat nahegelegen, mit oder vielleicht auch nach der deutschen Wiedervereinigung einen neuen Prozess der Verfassungsgebung in Gang zu setzen. Dafür war ja der Artikel 146, der Schlussartikel des Grundgesetzes, vorgesehen und geschaffen worden. Der Hauptgrund, warum das nicht realisiert worden ist, war der ungeheure Zeitdruck. Und diejenigen, die - wie wir jetzt wissen: sehr zu Recht - drängten, weil das Zeitfenster für eine gelingende deutsche Wiedervereinigung sehr eng war, das waren vor allem die Kräfte aus der ehemaligen DDR. Da haben sich die Ereignisse politisch überschlagen. Ich kann mich an einen Vortrag von Sabine Bergmann-Pohl erinnern: Als sie im Frühjahr 1990 Präsidentin der Volkskammer der DDR wurde, sei man noch davon ausgegangen, die Wiedervereinigung würde so drei bis vier Jahre dauern. Das ist dann aber innerhalb der nächsten Monate geschehen. Also, da hat es eine ungeheure Dynamik gegeben, sodass in dem Prozess selber der Gedanke an eine Verfassungsgebung nicht zu realisieren war, für die man ja doch etwas Ruhe und Zeit zur Beratung braucht. Das hätte uns nicht hindern müssen, hinterher an die Aufgabe der Schaffung einer neuen Verfassung heranzugehen. Das könnten wir nach meiner Meinung auch heute noch tun.

Welche Vorteile hat das vergleichsweise junge Grundgesetz gegenüber Verfassungen älterer Nationen, beispielsweise gegenüber der amerikanischen von 1789?

Die deutsche Verfassung ist eigentlich im Vergleich mit den meisten anderen gar nicht so jung. Die Amerikaner bilden die große Ausnahme, aber das ist auch fast der einzige Fall, wo wir eine geschriebene Verfassung haben, die über 200 Jahre alt ist. Der Nachteil der amerikanischen Verfassung liegt auf der Hand: nämlich dass sie so alt ist und einen sehr schwierigen Veränderungsmodus hat, weshalb sie ganz selten revidiert wird, aber die Wandlungsprozesse trotzdem zu bewältigen sind, die eine Verfassung stets aufgreifen und umsetzen muss. Da ist das Grundgesetz flexibler, weil es sehr viel leichter Verfassungsänderungen ermöglicht. Allerdings ist es fast zum anderen Extrem ausgeschlagen, indem es Verfassungsänderungen so leicht macht wie in fast keinem anderen Staat der Welt. Man sagt zwar immer, die Zweidrittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat bilde eine hohe Hürde. Aber wegen der parteienstaatlichen Durchformung des Föderalismus und des parteipolitischen Systems genügt praktisch das Einverständnis der großen Parteien. Das Volk ist nicht beteiligt. Das ist ein großes Manko, ein Nachteil, wie man einfach festhalten muss. Der Vorteil ist: Natürlich konnte das Grundgesetz seit 1949 in vielfältiger Weise auf Entwicklungen reagieren und Entwicklungen aufnehmen. Allerdings wird das zum Teil auch bei uns, wie in den USA, durch eine zuweilen recht freie und schöpferische Judikatur des Verfassungsgerichts bewerkstelligt.

Empfinden die Deutschen einen Verfassungspatriotismus, von dem immer mal wieder zu hören ist, oder haben wir als späte Nation eher ein emotionsfreies Verhältnis zu unserem Grundgesetz?

Ich glaube, dass man direkt nach 1949 ein eher kühles, distanziertes Verhältnis, wenn nicht gar ein Nichtverhältnis, zum Grundgesetz hatte. Was sich aus den historischen Umständen sehr gut erklären lässt. Das hat sich aber in über 60 Jahren mittlerweile deutlich geändert. Das Grundgesetz als Inbegriff der guten politischen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland ist sehr viel stärker Wirklichkeit geworden, als man sich das seinerzeit hätte träumen lassen können. Die Zustimmung etwa zum Bundesverfassungsgericht in seiner Funktion als Hüter der Verfassung ist unglaublich hoch. Wobei die verfassungspatriotische Komponente oder die Bewunderung für das Grundgesetz nicht unbedingt mit einer besonders detaillierten Kenntnis seines Gesamttextes einhergeht. Man bewundert ja auch häufig gerne die Dinge, die einem etwas ferner stehen. Wenn man sie von ganz nah betrachtet, dann verlieren sie etwas von ihrer Aura. Das Grundgesetz gilt aber jedenfalls als etwas sehr Bewahrenswertes.

Warum kennt das Grundgesetz keine Volksentscheide? Die Schweiz lässt beispielsweise über einen Mindestlohn oder den Bau von Moscheen und anderes mehr das Volk abstimmen.

Im Grundgesetz steht durchaus, dass die deutsche Staatsgewalt durch Wahlen und Abstimmungen ausgeübt wird. Abstimmungen heißt: Volksgesetzgebung. Aber es fehlen im Grundgesetz weitere Ausführungsvorschriften. Wenn Sie so wollen: Es fehlt an konkretisierenden Normen, auf welche Art und Weise und bei welchen Gegenständen eine solche Gesetzgebung möglich sein könnte. Ergebnis: Wenn wir auch auf der Ebene des Grundgesetzes und nicht nur in den 16 Bundesländern so etwas wie Volksgesetzgebung haben wollen, dann könnten wir das durchaus einführen, müssten aber dafür die Verfassung ändern. Das könnten wir gut und gerne machen. Es wäre auch durchaus sinnvoll.

Horst Dreier (59) ist Professor für Rechtsphilosophie sowie Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Würzburg. Von 2001 bis 2007 war er Mitglied des Nationalen Ethikrates.

Das Gespräch führte Volker Wagener.