Drago Jancar: "Wir können uns durch Literatur näherkommen"
21. Oktober 2023Drago Jancars Werk umfasst Romane, Erzählungen, Theaterstücke, Drehbücher und Essays. Bis 1974 arbeitete er als Journalist, verlor seinen Job allerdings, als er ein Buch ins damalige Jugoslawien schmuggelte, das die Morde an slowenischen Soldaten durch Kommunisten beschrieb. Dafür wurde er zu einem Jahr Haft verurteilt. Sein jüngster Roman "Als die Welt entstand" ist 2023 bei Hanser erschienen. Slowenien ist Gastland der 75. Frankfurter Buchmesse.
DW: Ihr jüngster Roman "Als die Welt entstand" spielt im ostslowenischen Maribor im Jahr 1959. Der Zweite Weltkrieg ist vorbei, das neue Zeitalter des jugoslawischen Kommunismus hat begonnen. Aber in den Köpfen ist längst nicht alles Geschichte. Ihr Buch erzählt davon, dass es nicht nur eine Wahrheit gibt, sondern viele - auch wenn in Jugoslawien lange nur die Erzählung der Sieger galt.
Drago Jancar: Natürlich reklamieren die Gewinner Wahrheit für sich. Aber man kann nicht alle zum Schweigen bringen. Es gibt auch die kleinen Gruppen von Menschen, die religiös waren und dadurch Schwierigkeiten hatten. Es gab eine deutsche Minderheit, die bereits vor dem Zweiten Weltkrieg in der Stadt gelebt hatte. Ja, unter ihnen waren Verräter, Kollaborateure. Aber die verdammen wiederum die Kommunisten als Kriminelle, die so viele getötet hätten. Sie alle haben eine Wahrheit, verschiedene Wahrheiten. Die Leute streiten heutzutage immer noch darüber, wer im Recht war und wer nicht. Das ist auch ein bisschen slowenische Folklore. Aber ich denke, dass sich die Jungen, die neue Generation dafür nicht mehr interessiert.
Sie haben kürzlich in einem Interview gesagt, dass es in Ihren Geschichten weniger um die Vergangenheit geht als vielmehr um deren Bedeutung für die Gegenwart...
Eigentlich haben alle meine Romane, Erzählungen und Theaterstücke eine Bedeutung für die Präsenz. Die Menschen verändern sich im Lauf der Geschichte gar nicht so sehr. Unsere Leidenschaften, unser Verrat, unsere Liebe und unser Hass sind im Wesentlichen gleich. Ich denke, dass mein Roman kein historischer ist, sondern ein zeitgenössischer.
"Gut und Böse kämpfen in uns und in der Geschichte"
"Als Schriftsteller beschäftigt mich die Frage nach Gut und Böse", haben Sie einmal gesagt. Aber Ihr Roman erzählt ja gerade davon, dass diese Unterscheidung nicht so einfach ist.
Ich war 1959 auch ein Kind in Maribor. In der Schule haben sie uns davon überzeugt, dass es nur Gut und Böse gibt und dass, wer in die Kirche ging, etwas Unerlaubtes tat. Mein Held, ein Junge namens Danijel, erkennt, dass Gut und Böse in jedem Menschen sind. Wer bisher gut schien, macht im nächsten Kapitel etwas Böses. So kämpfen Gut und Böse in uns und in der Geschichte. Es gibt keine Eindeutigkeit: nicht in der Geschichte, nicht für einen einzelnen Menschen.
Ist "Als die Welt entstand" autobiografisch?
Vieles ist auch erfunden. Dann gibt es auch Geschichten, die ich damals gehört habe. Ich kann nicht sagen, ob das so oder anders passiert ist, als Autor stecke ich ja auch immer in meiner Fantasie fest. Aber es stimmt schon, als ich ein Junge in diesem Alter war, hörte ich ständig Geschichten über den Krieg. Alle redeten über den Krieg, über die Besatzung, über Tapferkeit und über Mut und Verrat und über Partisanen in den Wäldern. Die Leute waren voll von diesen Geschichten.
Ich hatte damals allerdings kein großes Interesse daran. Und es kam mir auch lange vor, als handele es sich um eine sehr ferne Zeit in der Geschichte. Aber dann kam Ende des 20. Jahrhunderts der Krieg in Jugoslawien. Mir wurde plötzlich klar, dass es durchaus möglich ist, dass wir wieder Krieg haben. Und wir hatten ihn. Und jetzt haben wir noch einen, der mich erneut schockiert hat – denn niemand hat mit dieser russischen Invasion in der Ukraine gerechnet.
"Wir sind uns plötzlich näher"
Vor drei Jahren erhielten Sie den Österreichischen Staatspreis für europäische Literatur. Gibt es so etwas wie europäische Literatur?
Ich weiß es nicht. Aber wir lesen einander, wir übersetzen einander, wir kommen uns immer näher. Man interessiert sich mittlerweile auch in den großen Nationen für die Literatur aus so einem kleinen Land wie Slowenien mit gerade einmal zwei Millionen Einwohnern. Es wird niemals so sein, dass jeder jeden wirklich versteht. Aber wenn jemand aus dem anderen Teil Europas durch meine Bücher und meine Erfahrungen, über die ich schreibe, mehr Verständnis hat, dann ist das ja schon viel. Wir sind uns plötzlich näher.
Als Slowenien 1991 unabhängig wurde, wurde Ihnen angeboten, Kulturminister des neuen Staates zu werden. Sie haben abgelehnt. Aber das zeigt, dass Sie als moralische Autorität wahrgenommen wurden - als jemand, der auch etwas Verbindendes für die Gesellschaft darstellen konnte. Sehen Sie sich so?
Ich sagte mir: Nein, das ist nichts für mich. Ich bin Schriftsteller. Als Politiker muss ich mich mit ganz anderen Dingen beschäftigen. Ich hätte Kämpfe führen müssen, die ich nicht führen will. Also blieb ich Schriftsteller, und ich denke, das war die richtige Entscheidung. Ich hätte nie all meine Romane und Geschichten schreiben können, wenn ich in die Politik gegangen wäre.
Aber ganz von der Politik können Sie ja nicht lassen, Sie schreiben weiterhin gelegentlich Essays zu gesellschaftlichen und politischen Fragen.
Ich kann nicht schweigen, wenn ich sehe, dass etwas falsch läuft. Vielleicht ist es meine Erfahrung mit dem früheren System, über das ich nie glücklich war. Ich kenne den Unterschied zwischen einem autoritären, totalitären und undemokratischen System und der Demokratie. Ich kenne beides. Und deshalb glaube ich, dass ich ein Recht habe, mich dazu zu äußern.
Das Interview führte Sabine Kieselbach.