Italien scheut die sexuelle Aufklärung
24. April 2023"Kinder und Jugendliche suchen zunehmend im Internet nach Antworten", sagt Antonio Pellai. Er ist Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche sowie Forscher an der biomedizinischen Abteilung der Universität Mailand.
In Italien steht Sexualkunde bis heute nicht verpflichtend auf dem Lehrplan. Seit dem Jahr 1975 wurde mehrfach versucht, Aufklärungsunterricht landesweit einzuführen. Italien steht in einer Linie mit den EU-Ländern Bulgarien, Polen, Rumänien, Litauen, Ungarn, der Slowakei, Kroatien und Spanien, wo junge Menschen ebenfalls nicht überall in der Schule aufgeklärt werden. Die italienischen Regionen können selbst entscheiden, ob sie Aufklärungsprojekte finanzieren und an Schulen durchführen.
Aufklärung durchs Internet
Experte Pellai ist besorgt, dass Jugendliche ihre Informationen über Sex aus dem Internet beziehen. Denn neben falschen Informationen und Halbwahrheiten über sexuelle Praktiken und Geschlechtskrankheiten sei die Pornographie eine Gefahr - insbesondere bei Jungen: "Die Darstellungen von Sex im Internet sind sehr gewalttätig und haben oft rassistischen oder pädophilen Charakter. Das sorgt für viel Verwirrung und Unsicherheiten bei der Aufklärung - und zu anderen Problemen, mit denen Jugendliche zu kämpfen haben."
In Italien sind, wie im Rest Europas, Geschlechtskrankheiten wieder auf dem Vormarsch. Vor allem bei den Ansteckungen mit Chlamydien, aber auch bei Syphillis steigen die Zahlen. Für die Psychotherapeutin Maria Cristina Florini, Präsidentin des italienischen Zentrums für Sexologie, steht nicht nur die Information über Sex und Gesundheit im Vordergrund, sondern auch der Austausch über das Thema. "Lehrer sollten das ganze Schuljahr über Sexualerziehung unterrichten. Da sie die Schüler gut kennen, haben sie einen anderen Zugang zu ihnen." Ein inoffizieller Charakter sei wichtig, um Themen offen ansprechen zu können, sagt die Sexologin. Dafür brauche es aber nicht nur eine Verpflichtung, sondern auch eine angemessene Ausbildung der Lehrkräfte. So könnten Schüler lernen, für sich und andere Verantwortung in Bezug auf sexuelle Gesundheit zu übernehmen.
Verpflichtende Sexualkunde dringend benötigt
Das Zentrum für Sexologie von Cristina Florini hat wie viele weitere Organisationen versucht, die Regierung auf die Bedeutung sexueller Aufklärung aufmerksam zu machen. Auch Pellai meint, Italien bräuchte dringend ein Konzept für Sexualerziehung, das an die digitale Welt angepasst sei.
Den insgesamt 16. Versuch seit 1975, Schulen flächendeckend zu sexueller Aufklärung zu verpflichten, unternahm Stefania Ascari der Fünf-Sterne-Bewegung. Auch diese Gesetzesinitiative von 2021 blieb erfolglos. Nun liegt das Thema in den Händen des aktuellen Bildungsministers Giuseppe Valditara, Mitglied der rechtspopulistischen Lega-Partei. Der Politiker positioniert sich gegen "Gender-Propaganda" und für eine starke Rolle der Eltern in der Kindererziehung.
Gemeinsam mit den ultrarechten "Brüdern Italiens" und der konservativen Forza Italia stellt die Lega seit einem halben Jahr die Regierung. Unter der äußerst rechten Regierungschefin Giorgia Meloni stehen vor allem mehr Geburten und die Förderung der "natürlichen Familie" im christlichen Sinne auf dem Programm. Darunter versteht Meloni ausschließlich eine Familie mit Mann und Frau.
"Ich sehe keine Debatte zu sexueller Aufklärung auf nationaler Ebene, aus der ein neues Konzept für die Bewältigung dieser Bildungsherausforderung entstehen könnte", sagt Forscher Pellai.
Politiker wollen Veränderung
Dennoch gibt es Politiker, die sich weiterhin für verpflichtenden Sexualkunde-Unterricht stark machen. Drei Mitglieder des römischen Stadtrats haben vergangenes Jahr eine entsprechende Petition gestartet. Auch die Stadträtin Eva Vittoria Cammerino unterstützt die Initiative, die auf Landesebene ausgeweitet werden soll. "Die Präsenz der Kirche ist unbestreitbar und bringt in der Tat eine patriarchalische Sichtweise zurück, in der die Frau immer eine untergeordnete Rolle spielt", sagt sie in einem Interview mit dem feministischen Online-Medium Freeda. Die unzureichende sexuelle Aufklärung von Kindern und Jugendlichen in Italien verstärke vor allem Diskriminierung, Sexismus und Homophobie, aber auch die Gewalt gegen Frauen.
Während Studien nur punktuell Aufschluss darüber geben, ob Sexualkunde an Schulen zu einer Abnahme von Geschlechtskrankheiten und ungewollten Schwangerschaften führt, ist sich die Wissenschaft in einem Punkt aber einig: Aufklärungsunterricht fördert nicht nur ein gesundes Sexualverhalten von Jugendlichen, sondern vergrößert auch das Wissen über Sex und Gesundheit.