DW-Doku "Klassik unterm Hakenkreuz" für Emmy nominiert
20. November 2023Als die 17-jährige Anita auf der Rampe in Auschwitz-Birkenau steht, weiß sie, dass der Tod auf sie wartet. Es ist Dezember 1943, zuvor hatte sie miterlebt, wie ihre Eltern deportiert wurden. "Das also ist jetzt die letzte Station", erinnert sich Anita Lasker-Wallfisch, heute 98 Jahre alt, an die "Aufnahmezeremonie". Was sie früher gemacht habe, wird sie gefragt. "Cello gespielt", antwortet die zutiefst verängstigte junge Frau. Kurz darauf steht die Leiterin des neu gegründeten KZ-Mädchenorchesters vor ihr. "Ich war starr, nackt und Alma Rosé fragt mich: Wo und was hast du studiert? Eine irrsinnige Unterhaltung."
Erstmalige Emmy-Nominierung für DW
Diese und andere Erinnerungen teilt die jüdischen Cellistin Anita Lasker-Wallfisch in der DW-Dokumentation "Klassik unterm Hakenkreuz: Der Maestro und die Cellistin von Auschwitz". Dem Gegenüber werden die Verstrickungen von Stardirigent Kurt Furtwängler mit den Nazis aufgezeigt. Gemeinsam erzählen die beiden so unterschiedlichen Lebensschicksale davon, wie Musik im Nationalsozialismus gebraucht und missbraucht wurde.
Die Dokumentation wurde jetzt in der Kategorie "Arts Programming" bei den 51. International Emmy Awards nominiert, die am 20. November in New York verliehen werden. Es ist die erste Emmy-Nominierung für die DW.
Der International Emmy Award wird im Rahmen des bedeutenden US-Fernsehpreises Emmy Awards verliehen. Damit werden jährlich die besten außerhalb der USA produzierten Fernsehprogramme ausgezeichnet. Der Preis gilt als einer der wichtigsten Fernsehpreise weltweit.
Der 90-minütige Dokumentarfilm "Klassik unterm Hakenkreuz: Der Maestro und die Cellistin von Auschwitz" von Regisseur Christian Berger wurde in der DW-Abteilung Kultur und Dokumentationen unter der Leitung von Rolf Rische und Tim Klimeš produziert. Verantwortliche Redakteurin war Frauke Sandig, produziert wurde der Film von der 3B-Produktion Berlin.
Cello rettet Anita Lasker-Wallfisch das Leben
Im Interview für "Klassik unterm Hakenkreuz" erinnert sich Anita Lasker-Wallfisch, wie das Cello ihr das Leben gerettet hat: Im KZ Auschwitz wird sie in das 56-köpfige Orchester des Frauenlagers aufgenommen. "Wir waren Kinder und Amateure", sagt sie. Die Stücke für die zusammengewürfelte Musiktruppe arrangiert Alma Rosé, KZ-Inhaftierte und Nichte des jüdischen und von den Nazis als "entartet" abgestempelten Komponisten Gustav Mahler.
Gefragt sind vor allem Märsche: So spielt das Orchester morgens und abends am Tor des Frauenlagers für die Arbeiterinnenkolonne, auch bei klirrender Kälte. Als Cellistin wird Lasker-Wallfisch vor der zerstörerischen Strafarbeit verschont, sicher fühlt sie sich nicht. "Nur so lange die Musik haben wollen, werden sie uns nicht in die Gaskammer stecken. Nur ein Aufschub!"
Doch warum machten sich die Nationalsozialisten überhaupt die Mühe, für die Gefangenen, die sie ermordeten, Musik zu spielen? "Diese Mentalität ist so pervers, dass sie kaum zu begreifen ist, aber sie ist zentral: Die Musik und die Künste sollten als Teil der Mordmaschine eingesetzt werden", sagt Norman Lebrecht in Bergers Dokumentation.
Jüdische Musiker spielen für SS-Massenmörder
Der britische Musikjournalist forscht seit vielen Jahren zur Rolle der klassischen Musik unter den Nationalsozialisten. "Eine blühende Kultur war eine der Möglichkeiten, die Nazi-Herrschaft in Deutschland zu rechtfertigen." Ein Deckmantel für die Nazis. "Sie konnten sagen, wir sind doch eine Kulturnation. Wir würden niemals etwas Nichtkulturelles tun."
Hitler selbst war sich der Macht von Musik bewusst: "Sicher ist, dass die Musik als größte Gestalterin von Gefühlen und Empfindungen anzusprechen ist, die das Gemüt bewegen", sagte er 1938 auf den Kulturtagen des NSDAP-Parteitages. Die zynische Realität war: Während jüdische Komponisten und Musiker verfemt waren und ermordet wurden, ließen sich Nazis wie KZ-Arzt Josef Mengele von Jüdinnen wie Anita Lasker-Wallfisch in Auschwitz klassische Musikstücke vorspielen. Und selbst in der privaten Plattensammlung von Hitler soll es Einspielungen von jüdischen Musikern gegeben haben.
Diese Widersprüche greift die DW-Musikdokumentation auf und spannt einen Bogen, der das klassische Musikgeschehen im "Dritten Reich" in seiner Gesamtheit erfasst. Die Hauptpersonen des Filmes sind zwei Menschen, die auf sehr unterschiedliche Weise für das Musikleben im Nationalsozialismus stehen: Stardirigent Wilhelm Furtwängler, der mit den Nazis paktierte, und Anita Lasker-Wallfisch, die keine Wahl hatte und nur dank ihrer musischen Begabung überlebte.
Erlebbar wird diese dramatische Zeit durch historisches Filmmaterial, das für die DW-Musikdokumentation digital restauriert und sorgfältig koloriert wurde. Darunter sind Szenen von Hitler bei den Bayreuther Festspielen, Furtwänglers Geburtstagskonzert für den Führer oder Richard Strauss bei der Eröffnung der Olympischen Spiele 1936. Und Aufnahmen von der Cellistin Anita Lasker-Wallfisch, die kurz nach der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen, wohin sie kurz vor Kriegsende deportiert wurde, von britischen Journalisten interviewt wurde.
Allgegenwärtiger Antisemitismus
"Meine Schwester und ich sind nicht mit dieser Geschichte aufgewachsen", erzählte Raphael Wallfisch nach der Premiere in Berlin im November 2022. Stück für Stück nur hätten sie erfahren, was ihre Mutter im Nationalsozialismus erlebt hatte. Mit Blick auf den immer noch gegenwärtigen Antisemitismus sei Anita Lasker-Wallfisch traurig und besorgt: "Sie glaubte, der Holocaust hätte die Welt gelehrt und für immer verändert, aber das ist nicht der Fall."
"Jede nationalistische Bewegung versucht, eine Idee davon zu verbreiten, wie eine Nation zu sein hat", sagte Enkel Simon Wallfisch nach der Filmvorführung. Die Nazis hätten alles unternommen, die Musik ihrer Ideologie zu unterwerfen und alles Jüdische zu verbannen. Noch heute würden Werke von Künstlern wie dem in Auschwitz getöteten Komponisten Viktor Ullmann zu wenig Aufmerksamkeit erhalten.
"Furtwängler war kein Nazi"
Während die junge Lasker-Wallfisch im Konzentrationslager um ihr Leben spielte, dirigierte Furtwängler für die Nazis. Moralisch müsse das verurteilt werden, sagt der Musikjournalist Norman Lebrecht in der Dokumentation. Anita Lasker-Wallfisch will sich daran nicht beteiligen: "Man soll sich nicht herausnehmen, ein Urteil über Menschen zu fällen, die in einer Situation waren, die man sich nicht vorstellen kann", sagt sie im Dokumentarfilm, der auch ihre Rede im Bundestag 2018 aufgreift: Mit Hass vergifte man sich selbst.
"Ich wollte mich nicht als moralische Instanz aufspielen", sagt der Filmemacher Christian Berger. Lasker-Wallfisch und Furtwängler hätten jeweils auf ihre Weise unter der Nazi-Diktatur gelitten. "Furtwängler war kein Nazi, er hat sich einspannen lassen. Er glaubte, Kultur und Politik hätten nichts miteinander zu tun." Das sei dramatisch und naiv gewesen.
Über die Unzerstörbarkeit von Musik
An den Moment der Befreiung kann sich Anita Lasker-Wallfisch noch sehr gut erinnern. Die damals 19-Jährige wollte, dass die ganze Welt von den Gräueltaten an Juden erfährt. "Was ich versucht habe zu beschreiben, war eigentlich unglaublich. Einfach als Tatsache. Wie beschreiben Sie Bergen-Belsen? Man läuft auf Leichen spazieren. Es ist nicht zu beschreiben."
Fast 50 Jahre lang blieb Anita Lasker-Wallfisch, die sich in London ein neues Leben aufgebaut hatte, ihrer Heimat fern. Erst 1994 kehrte sie Deutschland zurück. Nachdem sie viele Jahrzehnte nicht über das Erlebte gesprochen hat, ist es ihr nun zur Herzensangelegenheit geworden, darüber zu berichten.
Anita Lasker-Wallfisch ist nicht verbittert, hegt keinen Groll. Denn trotz des unvorstellbaren Grauens war eines immer für sie da: die Musik. Einprägsam ihre Worte im Film: "Musik? Können sie nicht kaputt machen! Sie können es versuchen, aber es ist unmöglich."
Die DW-Dokumentation "Klassik unterm Hakenkreuz: Der Maestro und die Cellistin von Auschwitz" ist seit dem 9. November 2022 auf dem DW YouTube-Kanal DW Doku (youtube.com/dwdoku) zu sehen.
Dieser Artikel erschien erstmals im November 2022 und wurde am 20.11.2023 aktualisiert.