"Kunst wirft Fragen auf"
14. August 2012DW: Frau Christov-Bakargiev, die Documenta kann sich über einen Besucherrekord freuen. Mehr als 400.000 Menschen haben bis jetzt die Kunstschau gesehen, die am 16. September zu Ende geht. Kann man sich da als Kuratorin nicht entspannt zurücklehnen und aufatmen?
Carolyn Christov-Bakargiev: Sicherlich! Wir haben nicht mit diesem erstaunlichen Ergebnis gerechnet, da es eine sehr komplexe Ausstellung ist - ganz ohne populistische Herangehensweise oder Attitüde. Der Erfolg ist deswegen etwas sehr Besonderes und zeigt, wie klug unsere Besucher sind. Sie haben richtig Hunger nach intelligenter Kunst.
Woher kommt dieser Hunger?
Wir leben in einem digitalen Zeitalter, in dem sich die Menschen nach Symbolen sehnen, nach etwas Spirituellem. Und Kunst ist traditionell durch solch eine symbolische Sphäre geprägt. Vielleicht kommt die Hinwendung daher.
Was meinen Sie damit genau?
Ich glaube, die Menschen suchen nach Antworten in der Kunst. Es herrscht ein Gefühl der Verunsicherung. Der Zusammenbruch von politischen Systemen, zum Beispiel in der arabischen Welt oder der Kollaps der Finanzmärkte - das alles hat Fragen aufgeworfen.
Kann eine Kunstschau wie die Documenta denn Antworten geben?
Kunst ist nicht dazu da, Antworten zu geben. Ich denke auch nicht, dass sich der Erfolg einer Ausstellung an den Antworten bemisst, die sie bereithält. Kunst sollte vielmehr Fragen aufwerfen. Wir leben in einer Welt, in der Zusammenbruch und Aufschwung auf der Tagesordnung stehen.
"Zusammenbruch und Aufschwung" - das ist auch das Motto der aktuellen Documenta 13!
Ja! Früher glaubte man: Erst kommt die Krise, dann der Wiederaufbau. Doch im digitalen Zeitalter hat sich die Geschwindigkeit unseres Lebens drastisch erhöht. Oft findet beides gleichzeitig statt, zum Beispiel in Afghanistan. Das Land befindet sich in der Post-Taliban-Ära, also im Aufbau, und es herrscht trotzdem noch Bürgerkrieg. Das heißt, die Regel "Erst der Zusammenbruch, dann der Aufschwung" hat heutzutage ihre Gültigkeit verloren. Alles passiert gleichzeitig.
Und Kunst kann diese Gleichzeitigkeit reflektieren?
Natürlich! Künstler thematisieren diese Prozesse, indem sie sich für bestimmte Materialien und Formen entscheiden und in der Art und Weise, wie sie sich dem Thema Zeit nähern. Gute Kunst reflektiert immer auch den Alltag des Menschen und weist gleichzeitig darüber hinaus. Genauso wie ein guter Roman oder ein gutes Gedicht.
Sie haben Afghanistan erwähnt. Diese Documenta hat in Kabul einen Außenschauplatz. Auch dort wird parallel Kunst gezeigt. Warum ausgerechnet Kabul?Da muss ich historisch etwas ausholen. Die erste Documenta 1955 wurde von Arnold Bode konzipiert. Er kam aus einer Möbelherstellerfamilie in Kassel und war ein Hobby-Landschaftsmaler. Ganz nebenbei entwarf er auch Ausstellungskonzepte. Er hatte die Idee, moderne Avantgardekunst auszustellen, die einst unter den Nazis verboten war - jene Werke, die 1937 in der Ausstellung "Entartete Kunst" zu sehen waren. Die wollte er wieder sichtbar machen und die kulturellen Beziehungen zwischen den Ländern wieder aufbauen. Deswegen holte er Picasso in die Ruinen von Kassel.
Was wollte Arnold Bode, der Documenta-Begründer, damit erreichen?
Genau mit dieser Frage bin ich in Gebiete gereist, die ein Trauma hinter sich haben. Ich habe Länder besucht, die sich nach einer Periode der Diktatur im Prozess des Wiederaufbaus befinden und die ein uraltes kulturelles Wissen besitzen. So kam ich nach Afghanistan. Und so entstand auch die Idee, dass die Documenta 13 nicht nur in Kassel allein stattfinden sollte, sondern dass es im Kern um den künstlerischen Austausch über Ländergrenzen hinweg geht.
Und wie kommt die Documenta-Dependance in Kabul an?
Ziemlich gut! In den Bagh-e-Babur-Gärten zum Beispiel gab es eine Ausstellung mit einer wunderschönen Skulptur, die der italienische Künstler Giuseppe Penone gestiftet hat. 30.000 Menschen besuchten sie. Es war die größte und erfolgreichste Ausstellung in Afghanistan seit dem Ende des Taliban-Regimes. Einfach unglaublich!
Kommen wir wieder zurück nach Kassel. Wenn man durch die Ausstellung wandert, sieht man viele Pflanzen und Tiere. Natur scheint für Sie eine große Rolle zu spielen. Einige Kritiker sagen, das sei ein naiver und allzu verspielter Zugang. Warum war Ihnen dieser Aspekt so wichtig?
Sie müssen wissen, dass ich mich jahrelang mit der Kunstströmung "Arte Povera" beschäftigt habe. Sie entstand in Italien ungefähr zur selben Zeit, zu der hier in Deutschland Joseph Beuys bekannt wurde. Der ökologische Ansatz in der Formgestaltung hat mich also sehr beeinflusst.
Wenn man Ökosysteme studiert, sieht man, dass es keine natürliche Spezies ohne Feinde gibt. Alles zielt auf eine natürliche Balance hin, auf "Zusammenbruch und Aufschwung", womit wir wieder bei unserem Motto wären. Unser Job hier ist es, Zusammenhänge aufzuzeigen. So kann man etwas verändern, zum Beispiel unsere Sichtweise auf die Politik oder auch unsere ästhetische Wahrnehmung.
Gibt es eigentlich einen Ort oder ein bestimmtes Werk in Kassel, das Sie besonders lieben?
Es gibt viele, zum Beispiel der "Do nothing garden" des chinesischen Künstlers Song Dong vor der Orangerie. Das ist ein gigantischer Bonsai beziehungsweise eine Miniatur-Bergkette. Das Ganze sitzt auf einem Berg von Müll. Wir mussten nicht sehr viel Geld für Material und Gerüste ausgegeben. Wir haben stattdessen mit Hilfe der Müllabfuhr Kassel Abfall gesammelt. Damit haben wir dann das Fundament des Kunstwerks aufgebaut, Erde darüber gestreut und darauf die Pflanzen gesetzt. Dieser Garten hat absolut keine Funktion. Man kann ihn nicht digitalisieren und per Computer verschicken. Wer ihn sehen will, muss nach Kassel kommen und ihn ganz unmittelbar erleben. Erst dann entfaltet sich die sinnliche Kraft dieses riesigen Hügels mit den wilden Gräsern darauf. Das ist meine Art des Widerstandes: Kunst, die sich dem Medienspektakel widersetzt. Ich sollte das eigentlich nicht sagen, da ich doch gerade von den Medien interviewt werde.
Das Interview führte Rainer Traube