Lieder für Europa
14. Mai 2011Ziemlich klein fing es an, damals 1956. Die europäische Einigung war weit entfernt, das Fernsehen gerade erfunden. Einige nationale Rundfunkanstalten wollten einmal etwas Gemeinsames unternehmen, das Medium Fernsehen bekannter machen und nebenbei ein bisschen die europäische Identität fördern. Nach dem Vorbild des italienischen San Remo-Festivals rief die damals noch recht kleine europäische Rundfunkunion (EBU) einen Lieder-Wettbewerb ins Leben. Sieben Länder nahmen am ersten Grand Prix Eurovision de la Chanson teil. Drei weitere, England, Dänemark und Österreich, hatten schlicht die Bewerbungsfrist verpasst. Den ersten Wettbewerb, bei dem nur Solokünstler auftreten durften und kein Lied länger sein sollte als dreieinhalb Minuten, gewann die Schweizerin Lys Assia.
Auf der Suche nach dem Massengeschmack
Mit der Zeit wurde die Teilnehmerzahl größer und der Grand Prix, wie er heute noch gerne genannt wird, geriet zum Muss für ganze Fernsehnationen. Im Jahr 2011 nehmen 43 Länder teil. Beinahe wären es sogar 44 geworden, doch der Beitritt Liechtensteins zur EBU ist noch nicht abgeschlossen, so dass der erste Beitrag des Fürstentums erst für 2012 erwartet wird.
Von Anfang an war die große Frage beim ESC: Wie schreibt man ein Lied, das allen gefällt? Kann es so etwas wie einen europaweiten musikalischen Konsens geben? Der Song Contest, der von der Intention her vor allem ein Komponistenwettbewerb ist, entwickelte mit der Zeit seine eigene Popkultur jenseits aktueller Trends.
Weder Punk noch Rock noch Rap waren lange Zeit zu hören. Stattdessen hymnische Balladen, die mit großer melodischer Geste Liebe, Frieden und Einheit besangen. Die zeitweilige Auflage, dass jedes Land nur in seiner eigenen Sprache teilnehmen durfte, brachte auch textlich so manche Kuriosität hervor: Titel wie "Boom Bang a Bang", "La La La" oder "Ding-A-Dong" konnte zwar jeder mitsingen, waren aber jenseits jeder lyrischen Ambition. Eine Merkwürdigkeit übrigens, die bis heute nicht verschwunden ist. Der finnische Beitrag in diesem Jahr heißt "Da Da Dam", Israel tritt mit der Euro-Dance-Nummer "Ding Dong" an.
Ein Vierteljahrhundert zu früh
Und dann, am 6. April 1974, die große Ausnahme von der Grand Prix Regel. In grellen Klamotten und mit einem für Eurovision-Verhältnisse sehr rockigen und zeitgemäßen Song namens "Waterloo" startete die Weltkarriere einer der erfolgreichsten Popbands überhaupt. Abba gewann in Brighton zwar nur knapp, aber ihr anschließender Welterfolg war gleichzeitig der Startschuss für die Erfolge zahlreicher Bands aus dem nicht englisch sprechenden Europa.
Doch Abba waren ihrer Zeit ein Vierteljahrhundert voraus. In den Folgejahren kehrte der Grand Prix zurück zum mitsingtauglichen, pathetischen Euro-Konsens. Erst seit 1998 die transsexuelle Dana den Wettbewerb mit einer schrillen Disco-Nummer für Israel gewann, fand der Eurovision Song Contest Anschluss an aktuelle Poptrends. Auf einmal war es sogar möglich, dass die schräge finnische Band Lordi mit ihrem "Hard Rock Hallelujah" den Wettbewerb im Jahr 2006 für sich entscheiden konnte.
Mr. Eurovision
Mr. Eurovision: Wenn einer diesen Titel verdient hat, dann der deutsche Komponist Ralph Siegel. Zwischen 1974 und 2009 nahm er mit 19 Liedern am europäischen Gesangswettbewerb teil. Die Sängerin Nicole, damals 17 Jahre alt, gewann 1982 mit der Ralph-Siegel-Komposition "Ein bisschen Frieden". Es sollte 28 Jahre dauern, bis Lena den ESC im letzten Jahr erneut für Deutschland gewann. Ralph Siegel zeigt sich seitdem übrigens als schlechter Verlierer und wird nicht müde zu betonen, dass er der einzige deutsche Komponist sei, der je einen ESC gewonnen habe; schließlich sei "Satellite" von einem dänisch-amerikanischen Komponisten-Duo geschrieben worden.
Durch das Tal der Tränen
Es musste erst eine Lena Meyer-Landrut kommen, um Deutschland zum Sieg zu führen. Vor allem in den 1980er und 1990er Jahren hatte das Land nämlich gar kein glückliches Händchen, was die Auswahl der ESC-Teilnehmer betraf. Schickte man in den 1970ern noch erfolgreiche Schlagerstars wie Katja Ebstein oder Gitte Henning ins Rennen, galt die Teilnahme am ESC später als potentieller Karrierekiller, zumindest für den Fall einer schlechten Platzierung. Angesagte deutsche Pop-Künstler weigerten sich einfach, mitzumachen. Am Tiefpunkt dieser Entwicklung, im Jahr 1996, schied Deutschland schon in der Vorrunde aus.
Als Konsequenz wurde das Reglement des Wettbewerbs geändert, so dass seither auf jeden Fall zumindest die Hauptfinanziers des ESC für das Finale gesetzt werden. Dazu gehören neben Deutschland auch Frankreich, Großbritannien, Spanien und seit 2011 wieder Italien.
Aus 7 mach 48
Der Zusammenbruch des Ostblocks und der Zerfall Jugoslawiens brachte dem ESC zahlreiche neue Teilnehmerländer. Machten davor die Nationen Westeuropas die Sache unter sich aus, sah man sich jetzt in der Minderheit oder gar von Osteuropa und dem Balkan dominiert. Immerhin kamen durch die zahlreichen neuen Länder auch diverse musikalische Neuerungen wie Ethno-Elemente und der Hang zur extravaganten Bühnenshow in den Wettbewerb. Gleichzeitig wurde zunehmend Kritik am Reglement der Punktevergabe laut. Allein die Anzahl der osteuropäischen Länder, die sich gegenseitig Punkte zuschanzen, mache es für die Westeuropäer unmöglich, überhaupt noch zu gewinnen, so munkelte man lange Zeit. Um dem vorzubeugen, wurden vor einigen Jahren musikalische Fachjurys eingesetzt, die neben dem Publikum die Wertung zu 50 Prozent bestimmen.
Sing it again, Lena!
Lenas Erfolg im vergangenen Jahr kam so überraschend, dass die Verantwortlichen, vor allem der Produzent Stefan Raab und der NDR in Hamburg, von der Euphorie davongetragen beschlossen, Lena noch einmal antreten zu lassen. Ob das gutgehen wird, kann bezweifelt werden, aber dass Künstler mehrfach teilnehmen ist historisch gesehen gar nicht selten. Immerhin ist der Song "Taken by a Stranger" so ganz anders als die typische Grand Prix-Hymne, und Glück sei Lena auf jeden Fall gewünscht. Die englischen Buchmacher übrigens sehen Lena derzeit auf den vorderen Rängen.
Autor: Matthias Klaus
Redaktion: Suzanne Cords