Digitale Entwicklungshilfe
12. Mai 2012Deutsche Welle: Der Verein "Digitale Gesellschaft e.V." ist vor einem Jahr gegründet worden, Sie haben 30 Mitarbeiter, die alle ehrenamtlich mitmachen. Ihre Aktionen finanzieren Sie durch Spenden von interessierten Usern. Was genau machen Sie?
Markus Beckedahl: Wir möchten die Interessen der Nutzer in der netzpolitischen Debatte stärker in den Vordergrund bringen. Wir wollen erreichen, dass dort, wo normalerweise nur Unternehmen und ihre Lobbyverbände Einfluss auf die Politik nehmen, auch die Sicht der Internetnutzer eine größere Rolle spielt. Man kann es mit der Umweltbewegung vor 30, 40 Jahren vergleichen. Die hat viele unterschiedliche Organisationen hervorgebracht, die jetzt groß und mächtig sind und sich wirkungsvoll für den Umweltschutz einsetzen. So wollen wir Nutzerrechte und Freiheiten im Internet verteidigen und ausbauen.
Wie sehen denn Ihre Aktionen aus?
Wir machen einerseits klassisches Lobbying, wir reden mit Politikern im Bundestag, im Berliner Abgeordnetenhaus, aber auch im Europarlament über digitale Themen. Und es gibt Kampagnen. Wir wollen, dass man die ganzen netzpolitischen Debatten erklärt bekommt. Wer kann sich schon wirklich was unter "Urheberrecht", "Vorratsdatenspeicherung" oder "Netzneutralität" vorstellen? Wir wollen, dass das im Zweifelsfall auch unsere Eltern kapieren, und dass das nicht irgendwas für die Internet-Nerds ist. Es geht hier um unsere Freiheit und wie wir die ganze digitale Gesellschaft in Zukunft gestalten wollen.
Welches Thema beschäftigt Sie momentan besonders?
Im Moment ist ja das Thema ACTA ganz groß in der Debatte (das geplante internationale Abkommen gegen Produktpiraterie und Urheberrechtsverletzungen - d. Redaktion). Wir beschäftigen uns schon lange mit ACTA, wir haben Flyer mit Informationen gemacht, wir haben Jutebeutel in der Produktion, auf denen eine Katze abgebildet ist. Die wollen wir vor allem auch im Europaparlament verteilen, um den Politikern dort klar zu machen, dass es sich bei ACTA um die "Katze im Sack" handelt. Denn keiner weiß genau, was wirklich dabei herauskommt. Da sind viele schwammige Formulierungen drin, die unterschiedlich interpretiert werden können. Wir sind der Meinung, dass Grundrechte dadurch in Gefahr sind.
Heißt das, dass Sie den Politikern auch erst einmal erklären möchten, was das alles eigentlich bedeutet?
Das hat natürlich auch eine ganze Menge mit digitaler Entwicklungshilfe zu tun, was wir da machen. Uns geht es natürlich darum, ein größeres Bewusstsein für diese digitalen Themen zu schaffen. Uns geht es auch darum, Politikern zu erklären, was Maßnahmen wie die Vorratsdatenspeicherung für den Bürger eigentlich bedeuten könnten. Für einen Sicherheitspolitiker erscheint es zunächst mal ganz logisch, dass man einfach mal so Telefondaten speichern kann, wer mit wem wo telefoniert hat in den letzten sechs Monaten. Ins "Analoge" übertragen: Festzuhalten und zu verfolgen, wer mit wem wo in den letzten Monaten beim Kaffeekränzchen saß - das würde ja auch keiner verlangen. Insofern versuchen wir ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass es verschiedene Interessen bei netzpolitischen Themen gibt. Und wir versuchen, die Medienkompetenz bei Politikern zu steigern durch unsere digitale Entwicklungshilfe, weil das im Optimalfall zu besseren Gesetzen und zu mehr Freiheiten führt.
Und wie nehmen die Politiker das Angebot an?
Das ist unterschiedlich. Wir kriegen einerseits viel Sympathie und Zuspruch von Politikern. Es gibt natürlich auch welche, denen unsere Haltung nicht gefällt, oder die es nicht so gut finden, dass Bürger sich einmischen, wo doch früher alles so schön beschaulich war mit den Lobbyisten.
Stichwort Politiker weiterbilden: Sie haben jetzt ein ganz frisches Projekt an den Start gebracht – es nennt sich "Adoptier deinen Abgeordneten" – worum geht es da?
Die Idee hinter dieser Kampagnenplattform ist, dass wir für 620 Bundestagsabgeordnete jeweils einen Paten suchen, der sich dann verantwortlich für einen Abgeordneten fühlt. Mit unserer Hilfe versorgt der Pate seinen Politiker dann mit Informationen zu aktuellen netzpolitischen Gesetzesprozessen. Er kann sich dann individuell um seinen eigenen Abgeordneten kümmern, Gesprächshilfe anbieten, versuchen denjenigen zu überzeugen, und sich als kontinuierlicher Ansprechpartner zur Verfügung stellen. Damit würden wir gerne den Bürger-Politiker-Dialog stärken und einfach mal mit einer – wie wir meinen – kreativen Idee ausprobieren, was das Internet alles für tolle Möglichkeiten zur Kommunikation, Transparenz und Teilhabe bietet.
Ich könnte also Herrn Westerwelle adoptieren oder gar die Kanzlerin?
Ja, aber die gefragten Politiker sind natürlich schon vergeben. Die Kontaktaufnahme geschieht über die Seite "Adoptier-deinen-Abgeordneten.de". Sie müssen dann pro Politiker und Monat einen gewissen Beitrag bezahlen als Spende an uns, damit wir das Ganze auch bearbeiten können. Wobei die Spitzenpolitiker teurer sind als die Hinterbänkler. Dann erhalten Sie von uns Informationen, wenn zum Beispiel ein neues Gesetz rund um den Datenschutz ansteht, mit welchen Positionen Sie sich an Herrn Westerwelle wenden können, dann können Sie dort auch anrufen oder mailen. Über Ihre Erfahrungen können Sie dann in Form eines Tagebuchs bei uns auf der Seite berichten. Politiker wiederum werden natürlich nicht gefragt, die können reagieren, müssen aber nicht. Auch das würde dann im Tagebuch erscheinen. Umgekehrt können die sich natürlich beschweren, über unhöfliche Paten zum Beispiel. Im Optimalfall sehen das Politiker als Chance, dass sie da einen digitalen Entwicklungshelfer bekommen, der ihnen hilft, all die neuen Technologien und Debatten auch zu verstehen. Und vielleicht freuen sie sich darüber, dass vielleicht ein Bürger mehr an demokratischen Prozessen teilnehmen möchte.
Markus Beckedahl ist Netzaktivist und bloggt unter www.netzpolitik.org über Netzweltthemen. Er ist Mitorganisator der Blogger-Konferenz re:publica, hat den Verein "Digitale Gesellschaft e.V." gegründet und ist außerdem Sachverständiger für die Grünen in der Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft. Im Juni 2012 erscheint sein Buch "Die digitale Gesellschaft - Netzpolitik, Bürgerrechte und die Machtfrage". Co-Autor ist der Journalist und Politikwissenschaftler Falk Lüke.