Die Zukunft des Lesens: Wohin geht die Reise?
13. Oktober 2018Im vergangenen Jahr war die Aufregung groß, als die Literaturredakteurin der "Frankfurter Allgemeine Zeitung", Sandra Kegel, vor der Buchmesse in einem Leitartikel provokativ fragte: "Ist das Buch am Ende?" Kegel kam zu ein paar ernüchternden Erkenntnissen. Jeder Fünfte lese überhaupt noch, die Menschen ertrügen die Stille nicht mehr, was aber die Grundvoraussetzung für das Lesen sei - und wenn Beschäftigung mit der Literatur, dann nur noch im Rahmen von Events.
Der Artikel stieß eine Diskussion an, viele Branchenvertreter bemängelten die zu pessimistische Sicht Kegels. Insbesondere der Börsenverein des Deutschen Buchhandels wehrte sich gegen das vermeintliche Krisengerede.
Sandra Kegel: "Jede Branche scheut schlechte Nachrichten"
Aber: Hatte und hat Kegel nicht doch recht? Sprechen - ein Jahr nach der Debatte - die Zahlen nicht immer noch für sich: dass etwa in den letzten Jahren über sechs Millionen Leser verloren gegangen sind?
Wir treffen Sandra Kegel auf der Messe. Dass die Aufregung 2017 so groß war, versteht sie auch heute nicht, hat aber Verständnis dafür, dass man die Schwarzmalerei von außen nicht befeuern möchte: "Jede Branche scheut schlechte Nachrichten, und man will auch nicht eine Branche runterreden und schon gar nicht die Akteure selbst."
Buchmarktkrise und Krise des Lesens seien zwei verschiedene Dinge, sagt sie und vermutet: "Ich glaube mittlerweile, dass wir gar keine Krise der Leser haben, sondern der Nicht-Leser. Früher haben womöglich mehr Nicht-Leser Bücher gekauft, die das heute nicht mehr tun." Das Buch als Geschenk zu einer Einladung, das gebe es heute viel seltener.
Überzeugt ist sie auch, dass man von einer "Krise des vertieften Lesens" sprechen kann: "Hier geht womöglich eine Kulturtechnik verloren. Das heißt: Nicht nur etwas zu lesen, sondern sich in einen Text hineinzubegeben: diese hohe Konzentration, die eben bestimmte Erfordernisse braucht, Ruhe, Einsamkeit, das Gegenteil von Event."
Die Verleger geben sich selbstbewusst
Und wie sehen dass die Verleger? Die müssten es schließlich wissen, weil sie recht schnell merken, wenn ihre Bücher nicht verkauft werden und rote Zahlen drohen. Von Krisengerede wollen die meisten aber tatsächlich nichts hören.
"Ich sitze nicht hier und praktiziere eine Selbstgeißelung mit hinlänglich bekannten Parolen wie 'Die Welt des Buches geht unter' und will auch nicht, wie es gern geschieht, den Leser daran erinnern, wie wohlig und nett - quasi im Wellness Modus - es doch früher war, ein Buch zu lesen," sagt Claudia Baumhöver von "dtv". Gegenwart und Zukunft stellten sich ganz anders dar: "Wir sind im Kulturbereich mit neun Milliarden Jahresumsatz ein Koloss, größer als das Kino, Netflix und Spiele für Konsolen zusammen. Wir erreichen immer noch 33 Millionen Menschen, die lesen."
Horst Lauinger vom Manesse Verlag (der zu Random House gehört) sieht das ähnlich: "Wir leben ja eigentlich nach wie vor auf einer Insel der Seligen, bei allen negativen Tendenzen, von denen wir natürlich nicht verschont bleiben." Man wisse schon, wie die Leserentwicklung in den letzten Jahren gewesen ist und wohin die Reise gehe. "Aber im direkten Vergleich mit Italien, Frankreich oder auch mit den USA - wenn man sich die Fülle der Neuerscheinungen bei uns anschaut, die Fülle an Übersetzungen, ist es nach wie vor so, dass wir sehr begünstigt vom Schicksal sind."
Manche Verlage machen gute Geschäfte
Auch der Nikolaus Gelpke vom Mare-Verlag ist sehr zufrieden mit den Zahlen des eigenen Hauses: 2015 sei das beste Jahr bei Mare überhaupt gewesen und die beiden darauffolgenden Jahre auch kaum schlechter: "Insgesamt kann ich nicht bestätigen, dass wir - ganz sicher im Vergleich zum Beispiel zu 15 Jahre früher - weniger Bücher verkaufen oder weniger Geld verdienen mit Büchern."
Das mögen viele Kleinverleger, die oft kaum Geld mit ihren Büchern verdienen und gezwungenermaßen auf das Prinzip Selbstausbeutung setzen, anders sehen - und mancher Verlagsriese ohne literarisches und inhaltliches Konzept möglicherweise auch.
dtv, schon lange mehr als nur ein Taschenbuchverlag, Manesse und Mare mögen dem Krisengerede nicht beipflichten. Also keine Krise der Buchbranche? Worauf man sich eher einigen kann, ist von einer "Krise des Lesens" zu sprechen. Und die hat etwas mit dem Freizeitverhalten zu tun. Da hilft es wenig, wenn in der Liste der der beliebtesten Beschäftigungen der Deutschen "lesen" in den entsprechenden Ranglisten nicht abgerutscht ist. Hauptkonkurrent fürs Lesen, das klingt in allen Gesprächen auf der Messe an, sind die vielen Angebote im Internet und vor allem die von Streaming-Diensten wie Netflix oder Amazon.
Der Kampf ums Zeitkontingent
Das sieht auch Sandra Kegel so: "Lesen heißt eben immer noch, dass man auf Grund von schwarzen Buchstaben auf weißem oder gräulichem Hintergrund eigene Welten entstehen lässt. Das ist nämlich eine aktive Tätigkeit im Vergleich dazu, wenn man ein Bild, einen Text, einen Ton konsumiert." Sie wolle Bücher nicht gegen Serien oder Filme ausspielen, "aber dass wir heutzutage so viele Sachen machen, die uns offenbar vom Lesen abhalten, das ist bedenkenswert." Da müsste drüber nachgedacht werden, "auch in den Schulen", fügt die Literaturredakteurin noch an.
Dem pflichtet Mare-Verleger Nikolaus Gelpke bei: "Das Zeitproblem ist das Problem unserer Branche, die mit Papier arbeitet, das ist definitiv so." Horst Lauinger sieht das ähnlich: "Netflix ist natürlich ein sehr aggressiver Mitbewerber für den Kulturkonsum. Wenn man sich das Zeitbudget anguckt, das fürs Streamen draufgeht, so kann man sich ausrechnen, wie wenig Zeit am Ende des Tages zum Lesen bleibt. Das beklagen auch viele Lesende: Zeit ist Mangelware."
Das klassische Bildungsbürgertum schwindet
Auch der Manesse-Chef konstatiert den Verlust eines bestimmten Publikums des auf Klassiker spezialisierten Verlags: "Was wir in den letzten Jahrzehnten merken, ist, dass unser homogenes Zielpublikum, das Bildungsbürgertum, sich aufsplittert und an den Rändern ausfranst. Der klassische Bildungsbürger, für den es zum Selbstverständnis gehört, jedes Jahr zwei, drei Klassiker zu lesen, den vermisse ich." Dafür gebe es zwar "ein 'Niveau-Milieu', das anspruchsvolle Literatur aus Überzeugung und aus Genuss" lese, aber: "Diese Schicht ist eben nicht mehr so homogen wie das gute alte Bildungsbürgertum."
Woraus schöpfen die drei dann also ihren Optimismus, wenn sich ein nachwachsendes Publikum seine Freizeit heute so ganz anders einteilt? Was empfehlen sie gegen die schwindende Leserschaft?
Claudia Baumhöver setzt auf ein ganz neues Angebote ihres Verlags: "Ein neues Imprint namens 'bold', das steht für 'fett' und auch für 'mutig'." Das wende sich gezielt "an die junge Generation der Digital Natives - in der Form der Ansprache, durch die besonderen Autorinnen und die Texte." Kommuniziert und umgesetzt werde das durch ein rein digitales Marketing-Konzept: "Etwas völlig Neues!"
Neues Zielpublikum mit neuen Mitteln erschließen
Agenten und Verlage in den USA, wo bereits dafür geworben werde, seien begeistert - auch und weil es da "einen Verlag mit einem Lösungsansatz" gebe: "Wir wenden uns also an die Gruppe der Digital Natives, die, so will es der Rumor, ja zu den bekennenden Nichtlesern gehört und damit zum angeblichen Niedergang der Branche vermeintlich entscheidend beitragen hat."
Und auch auf das besonders gut ausgestattete Buch setzt der Verlag, also auf Tradition. Gerade bereitet man bei dtv eine prachtvolle Humboldt-Ausgabe vor: "Wir stemmen Alexander von Humboldts 'anderen Kosmos' mit über zwölf Millionen Zeichen in zehn Bänden in der Edition 'Sämtliche Schriften - Berner Ausgabe'." Das seien "nicht weniger als zehn Kilogramm Buch, 1000 Artikel in 14 Sprachen, 30 Wissenschaftsdisziplinen, veröffentlicht in 250 Städten der Welt und das in 100 Publikationen auf fünf Kontinenten." Das Ganze soll im Juli 2019 erscheinen.
Gut gemachte Bücher als Verkaufsargument
Auch Nikolaus Gelpke will mit seinen Mare-Büchern weiterhin auf das "besondere Buch" setzen: "Es ist tatsächlich so, dass man vielleicht mehr seine Nische suchen muss." Es gebe "immer noch genug Menschen, die lesen und wenn es Menschen gibt, die nicht nur lesen wollen, sondern auch ein Buch lesen wollen, auch ein Hardcover lesen wollen, dann wünschen sie sich, dass ein Hardcover eben auch formal gut gemacht ist."
Horst Lauinger ist davon überzeugt, dass man sich in Zukunft zudem noch selbstbewusster präsentieren müsse: "Wir schlagen im Moment einen Kampf um die Zeitressourcen unseres Publikums, die meinen, im Zweifel mit einem Film leichter unterhalten zu sein als mit einem Buch - nur dass Lesen eine ganz eigene Lust am Fiktionalen erzeugt, eine ganz eigene Erkenntnisweise im Hirn präfiguriert. Das sind Dinge, die müssen wir in unserem Selbstverständnis viel stärker in den Vordergrund rücken."
Die Branche steckt den Kopf also keinesfalls in den Sand. Man sieht die Entwicklung bei der Leserschaft, registriert auch sinkendes Interesse am Kulturgut Buch. Auf der anderen Seite glaubt man aber daran, dass sich das Buch auch in Zukunft behaupten wird - mit Qualität, einer sorgfältigen Auswahl und Gestaltung und neuen Formaten.