Die Zukunft der Vergangenheit
27. Oktober 2012Allein in Argentinien sprechen Menschenrechtsorganisationen von 30.000 Personen, die während der Militärdiktatur zwischen 1976 und 1983 "verschwanden". Als "desaparecidos" – Verschwundene – gelten bis heute diejenigen, die gefoltert und anschließend ermordet wurden, weil sie dem Regime ein Dorn im Auge waren. Ihre Leichen wurden nie gefunden, daher hat sich der Begriff etabliert - genau wie in Brasilien, Chile, Paraguay, Uruguay, Peru oder Guatemala. Amnestie-Gesetze haben lange Zeit verhindert, dass Täter vor Gericht gestellt werden. Doch viel habe sich inzwischen getan in Sachen Aufarbeitung: Darin stimmen lateinamerikanische und deutsche Politiker und Diplomaten überein.
"Demokratie im Übergang"
Rund 500 Kinder sind in den 1970er Jahren in argentinischen Folterzentren geboren und an regimetreue Adoptiveltern übergeben worden, während man ihre leiblichen Eltern verschwinden ließ. Knapp über hundert von ihnen haben in den letzten Jahren ihre wahre Identität erfahren, nicht zuletzt dank der Hilfe der Organisation "Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo" in Buenos Aires. Ihre Mitglieder haben eine weltweit einzigartige nationale Gendatenbank angelegt, um ihre geraubten Enkel identifizieren zu können. "Es wird aber schwierig sein, dass auch die Identität der restlichen Kinder geklärt wird, die mittlerweile Mitte 30 sind", sagt der argentinische Botschafter in Berlin, Victorio Taccetti.
Dass die Europäer mehr als dreißig Jahre nach dem Ende der Diktatur in Argentinien immer noch von einer "Demokratie im Übergang" sprechen, empört den Diplomaten. "Wie viele Jahre müssen denn noch vergehen, bis unsere Länder als schlicht demokratisch anerkannt werden?" Taccetti betont, wie stark sich Argentinien um die Aufarbeitung der Verbrechen während der Militärdiktatur bemüht hat. Strafrechtlich habe sein Land große Fortschritte zu verzeichnen. Viele Täter sind inzwischen hinter Gittern, wie die ehemaligen Diktatoren Jorge Videla und Reynaldo Bignone.
Zustimmung bekommt Taccetti von der FDP-Politikerin Gudrun Kopp: "In der Gerichtsbarkeit, in der Frage der Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft und in der Transparenz ist Argentinien am weitesten mit der Aufarbeitung der Vergangenheit", bestätigt die parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Der ehemalige argentinische Präsident Nestor Kirchner hatte 2007 in Buenos Aires eine Gedenkstätte für die Opfer der Diktatur eingeweiht: Eine Granitmauer am Ufer des Flusses Río de la Plata erinnert an die Namen der Ermordeten.
Strafrechtliche Verfolgung
Rechtsanwältin Lili Löbsack beschäftigt sich seit den achtziger Jahren mit der Vergangenheitsbewältigung in Südamerika. Sie hat unter anderem den ersten Prozess gegen die argentinische Militärjunta miterlebt, der nach dem Ende der Diktatur unter der Regierung des ersten demokratisch gewählten Präsidenten Raul Alfonsín zustande kam. Besonders intensiv habe sie sich aber mit Brasilien befasst. "Brasilien ist im lateinamerikanischen Kontext das Schlusslicht im strafrechtlichen Sinne. Brasilien zieht es vor, die Opfer zu rehabilitieren und zu entschädigen, anstatt die Täter vor Gericht zu stellen", so Löbsack im Gespräch mit der DW. Es gebe einen "Pakt des Vergessens", was negative Auswirkungen auf den Rechtsstaat habe.
In Peru, wo zwischen 1990 und 2000 eine Diktatur herrschte, hat das Gericht das ehemalige Staatsoberhaupt Alberto Fujimori im April 2009 zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt: Zuerst wegen des Einsatzes von Todesschwadronen und wenige Monate später auch wegen Korruption. Nachdem er sich im Jahr 2000 zunächst nach Japan, die Heimat seiner Eltern, abgesetzt hatte, wagte er es fünf Jahre später, kurz vor den Präsidentschaftswahlen in Peru, von Chile aus sein politisches Comeback vorzubereiten. In Chile aber wurde er unter Hausarrest gestellt, was seine Auslieferung an die peruanischen Behörden in die Wege leitete.
Aufbau einer Erinnerungskultur
Die Aufarbeitung der Verbrechen aus der Zeit der Diktatur sei in Peru und in anderen lateinamerikanischen Ländern noch nicht abgeschlossen, so Staatssekretärin Gudrun Kopp. Deutschland habe dem Andenland finanziell dabei geholfen, eine Gedenkstätte zu errichten. "Ich bin überzeugt, dass die symbolische Kraft dieses Zentrums der Erinnerung dazu beitragen wird, dass Peru Kurs hält auf seinem Weg in eine bessere Zukunft." Den Deutschen sei vor dem Hintergrund der eigenen Geschichte bewusst, wie schmerzhaft Erinnerung sein kann. "Umso mehr ist der Mut zu bewundern, der historischen Wirklichkeit nicht auszuweichen, sondern der Erinnerung Raum zu schaffen. Gerade für junge Menschen und die nachfolgenden Generationen ist es wichtig zu sehen, wohin ideologische Verblendung führt", mahnt Kopp.
Bei der Aufarbeitung der Militärdiktaturen in Lateinamerika und dem Aufbau einer Erinnerungskultur seien deutsche und andere europäische Regierungen aber keine große Hilfe gewesen, kritisiert der argentinische Botschafter Taccetti. "Da haben eher die Nichtregierungsorganisationen ihren Beitrag geleistet." Politiker aus Europa hätten aber während und nach den Diktaturen eher weggeschaut.