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"Die Zeit des Redens ist vorbei"

Jakov Leon/stu17. Februar 2015

Wie sicher können sich Juden in Europa fühlen? Maram Stern vom Jüdischen Weltkongress und Moshe Kantor von dessen europäischem Zweig sprechen über das Leben nach den Anschlägen von Paris und Kopenhagen.

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Soldaritätsplakat (Foto: AFP/Getty Images/J. Demarthon)
Bild: AFP/Getty Images/J. Demarthon

Deutsche Welle: Der Doppelanschlag von Kopenhagen wird von der ganzen Welt verurteilt. Er richtete sich auch gegen die jüdische Gemeinde - so wie schon die Anschläge von Paris vor einem Monat. Was war Ihre Reaktion, als Sie davon hörten?

Moshe Kantor: Mit diesem Krieg gegen unsere Gemeinden werden ganz gezielt Juden angegriffen. Es geht dabei nicht darum, was wir tun oder sagen, sondern darum, wer wir sind. Die Gemeinden sind zu Recht besorgt. Es ist der Versuch, unseren Lebensalltag durch systematische Angriffe in ganz Europa zu zerstören, mit dem Ziel, die Juden Europas zu terrorisieren.

Maram Stern: Ich wünschte, die ganze Welt würde den Anschlag verurteilen, aber das ist leider nicht der Fall. Ich vermisse viele, viele Nichtregierungsorganisationen, die vorgeben, sich für eine bessere und sicherere Welt einzusetzen.

Stehen Sie in Kontakt mit der jüdischen Gemeinde in Dänemark?

Kantor: Ja, und es gibt dort verständliche Angst und Sorge, aber auch das Gefühl, dass dies hätte verhindert werden können, wenn man die Sicherheitsmaßnahmen verstärkt und dafür mehr Mittel bereitgestellt hätte - und zwar vor dem Anschlag und nicht danach. Nach dem tödlichen Angriff auf die jüdische Schule in Toulouse vor drei Jahren hat der Europäische Jüdische Kongress (EJC) ein Sicherheits- und Krisenzentrum eingerichtet. Es soll jüdische Gemeinden auf Krisen- und Sicherheitsmanagement vorbereiten, indem es die Bereiche Führung, Sicherheit, medizinische und psychologische Versorgung in Krisenmanagement-Teams koordiniert.

Moshe Kantor, Präsident des Europäischen Jüdischen Kongresses (Foto: EJC)
Moshe Kantor, Präsident des Europäischen Jüdischen KongressesBild: EJC

Stern: Wir sind in ständigem Kontakt mit der Führung und mit Mitgliedern der jüdischen Gemeinde in Dänemark. Jeder ist natürlich um die Sicherheit dieser Gemeinde besorgt, das ist eine natürliche, menschliche Reaktion. Aber die jüdischen Gemeinden machen sich überall Sorgen. Angriffe dieser Art haben keine geografischen Grenzen.

Wie sicher sind Juden in Europa?

Kantor: Alle Berichte und Untersuchungen zeigen, dass der Antisemitismus so stark ist wie seit Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr. Juden stehen in diesem Krieg an den Frontlinien. Wir sind das Hauptziel, aber wir sind wir nicht das einzige Ziel, denn die Terroristen versuchen, die Lebensweise von uns allen zu zerstören, indem sie die Redefreiheit angreifen, eine zentrale Grundlage der westlichen Gesellschaft.

Stern: Man würde denken, dass Europa sicher ist, und ich glaube, dass es das im Großen und Ganzen auch ist - aber man kann diese Art von Angriffen nicht unter Kontrolle bringen.

Wo ist die Situation besonders besorgniserregend?

Kantor: Die Situation in Frankreich ist sehr schlimm, aber auch in anderen Ländern, wie Schweden oder Belgien. Das Wichtigste ist, dass es eine europaweite Reaktion der politischen Entscheider gibt. Sie sollten sich zusammentun und einen pan-europäischen Stab gründen, der sich des Problems annimmt.

Stern: Ich weiß nicht, ob irgendjemand sagen kann: Dieser Ort ist schlimmer als dieser. Die jüngsten Angriffe gab es in Dänemark und Frankreich, aber das kann auch überall sonst passieren.

Maram Stern, stellvertretender Generaldirektor des Jüdischen Weltkongresses (Foto: WJC)
Maram Stern, stellvertretender Generaldirektor des Jüdischen WeltkongressesBild: WJC

Haben Sie mit europäischen Entscheidern gesprochen?

Kantor: Wir haben in den vergangenen Wochen mit vielen europäischen Staatsführern gesprochen, deren Gefühle für uns sehr beruhigend waren und die sie auch in der Öffentlichkeit ausgedrückt haben. Allerdings ist die Zeit des Redens und der Solidaritätsmärsche vorbei. Es ist an der Zeit zu handeln, den Kampf gegen radikale Islamisten zu führen, die bereits neue Angriffswellen planen. Wir dürfen nicht in der Defensive verharren, sondern müssen in die Offensive gehen.

Stern: Der Jüdische Weltkongress (WJC) redet ständig mit Entscheidern. Überall stoßen wir auf Verständnis - aber das Problem liegt in der Frage, wie sich diese unkontrollierbaren Angriffe stoppen lassen.

Dr. Kantor, in einer Pressemitteilung des EJC werden Sie mit den Worten zitiert: "Die Welle des Antisemitismus, die über den Kontinent fegt, wird immer gewalttätiger und bedroht die jüdische Existenz." Warum steht die jüdische Gemeinde diesen Bedrohungen gegenüber?

Kantor: Die einfache Antwort lautet: Religiöser Hass. Dass der Nahost-Konflikt oder Israel eine Ursache sind, wie manche glauben, weisen wir gänzlich zurück. Das ist eine absolut absurde Gleichung, die in dieser Form auch auf keine andere Gemeinde passen würde: Es toben -zig gewalttätige Konflikte in der Welt, die Zehntausende Opfer fordern, doch keine Gruppe in Europa, die religiöse, kulturelle oder nationale Verbindungen zu diesen Nationen hat, wurde deshalb angegriffen. Die Behauptung, der Nahost-Konflikt spiele eine Rolle, ist antisemitisch, weil sie einen anderen Maßstab an das jüdische Volk anlegt und weitere Angriffe auf Juden rechtfertigt.

Stern: Was hat uns in diese Situation gebracht, warum steht die jüdische Gemeinde dieser Gefahr gegenüber? Das ist vielleicht die komplizierteste Frage; sie lässt sich kaum mit ein paar Worten beantworten.

Was muss als nächstes geschehen?

Kantor: Erstens müssen die Sicherheitsmaßnahmen für Juden und jüdische Einrichtungen, die ständig bedroht sind, verstärkt werden. Es ist die Pflicht aller europäischen Regierungen, nicht nur jüdische Institutionen zu schützen, sondern auch die internen Sicherheitsbemühungen der Gemeinden selbst zu unterstützen. Es muss einen radikalen Paradigmenwechsel im Denken der politischen Entscheider Europas geben. Das gegenwärtige Paradigma funktioniert einfach nicht, es bietet Juden und anderen bedrohten Gemeinden keinen Schutz. Wir brauchen eine stärkere nachrichtendienstliche Zusammenarbeit zwischen Staaten, denn durch die offeneren Grenzen können potenzielle Attentäter leicht von Land zu Land reisen. Als ein weiteres Mittel der Vorbeugung brauchen wir härtere Strafen für Verbrechen, die aus Hass und Vorurteilen begangen werden.

Was halten sie davon, dass Israels Premierminister Benjamin Netanjahu die europäischen Juden erneut aufgerufen hat, nach Israel zu kommen?

Kantor: Die Reaktion des israelischen Premierministers ist ganz natürlich. Wie alle Israelis macht er sich Sorgen um die jüdischen Gemeinden auf der ganzen Welt. Die Israelis sehen, was passiert und möchten helfen. Trotzdem glaube ich nicht, dass eine Massenauswanderung die Antwort ist. Die Juden sind die älteste und loyalste Minderheit in Europa und wenn Juden auf diesem Kontinent nicht willkommen sind, lässt das sehr Schlechtes für Europas Zukunft ahnen. Es ist sicher kein Zufall, dass Angriffen auf Juden immer dunkle Tage für Europa als Ganzes folgten.

Stern: Juden, die aus Angst vor Anschlägen Europa verlassen müssen, bedeuten das Ende eines freien Europa.

Maram Stern ist stellvertretender Generaldirektor des Jüdischen Weltkongresses (WJC) und leitet dessen Brüsseler Büro. Der WJC ist der Dachverband jüdischer Gemeinden und Organisationen in rund 100 Ländern.

Moshe Kantor ist Präsident des Europäischen Jüdischen Kongresses (EJC), dem europäischen Zweig des WJC. Er ist zudem stellvertretender Vorsitzender der Nichtregierungsorganisation Europäischer Rat für Toleranz und Versöhnung (ECTR) und Präsident des International Luxembourg Forum on Preventing Nuclear Catastrophe.