35 Jahre Widerstand gegen Atommüll-Lagerung
12. Juni 2012Eckhard Tietke wirkt ruhig, ausgeglichen. Doch Krimis kann er nicht mehr sehen. "Hier wird man so häufig mit der Polizei, Blaulicht und Sirenenlärm konfrontiert, dass ich keine Gewalt im Fernsehen mehr ertragen kann." Auch sein Sohn Fritz hat eine Phobie vor Beamten in Polizeiuniform. Besonders wenn die Castoren, die Transportbehälter mit hochradioaktivem Atommüll, auf Gorleben zurollen, sei das sehr belastend, sagen Vater und Sohn unisono, weil man sich dem nicht entziehen könne. Dann herrscht im Wendland in Niedersachsen der Ausnahmezustand. Zehntausende Aktivisten und Polizisten sind jedes Mal im Einsatz, um die Castoren mit der strahlenden Fracht auf dem Weg zum provisorischen Standort zu begleiten.
"Beim ersten Transport war ich noch zu klein, um meine Eltern zu begleiten. Da habe ich fern gesehen. Diese vielen Polizisten, die auch Gewalt verübt haben gegen Demonstranten, das hat mich sehr geprägt", gesteht der 30-Jährige.
Die Tietkes sind in der Bäuerlichen Notgemeinschaft organisiert. Eckhard führt den Hof in Groß Breese in der siebten Generation. Wenn die Castoren sich ankündigen, sind die Tietkes in Alarmbereitschaft. Tag und Nacht. Dann wird die Wut größer als die Erschöpfung und die Angst je werden können, und auch der Einfallsreichtum kennt keine Grenzen. Da wird jede Gelegenheit genutzt, der Polizei ein Schnippchen zu schlagen und den Transport zu verzögern. Die Trecker der Bauern sind sehr effektiv.
Der Beschluss der Bundesregierung, sich von der Atomenergie zu verabschieden, beruhigt die Gemüter der Tietkes gar nicht, weil die Abfälle, die bisher durch die Nutzung der Kernenergie entstanden, gelagert werden müssen.
Gorleben wurde vor mehr als 35 Jahren als Standort festgelegt, doch die Geister scheiden sich, ob der Salzstock als Endlager überhaupt geeignet ist. "Wo die Castoren doch schon hierher ins Zwischenlager kommen, werden sie die auch nicht wieder irgendwo anders hinbringen", ist sich Monika Tietke sicher, dass gar kein anderer Standort als Gorleben in Frage kommt.
Die Castoren, Behälter zur Aufbewahrung und zum Transport radioaktiven Materials, kamen bisher aus der Wiederaufbereitungsanlage im französischen La Hague. Ab 2014 soll hochradioaktiver Atommüll aus dem britischen Sellafield nach Gorleben gebracht werden. Dann werden wieder Zehntausende demonstrieren, blockieren, was geht, sich in Gleisbetten der Bahn einbetonieren.
Castor-Transporte kosten Zeit, Nerven und Geld
Das kann die Welt im Fernsehen im Groben verfolgen. Verborgen bleibt der Masse, was im Einzelnen auf den letzten 20 Kilometern geschieht, nachdem die hochradioaktive Fracht von der Schiene auf LKW verladen wurde und auf der Straße zu ihrem Zwischenziel gebracht wird. Wenn auf beiden Seiten Aggression und Nervosität aufeinander treffen. Vergangenen November waren mehr als 20.000 Beamte im Einsatz. 33,5 Millionen Euro soll der Transport gekostet haben.
Fliehen, auswandern können die Tietkes nicht so einfach. "Wir leben doch hier von dem Boden und können ihn nicht einrollen wie einen Teppich", argumentiert Monika Tietke, "außerdem leben wir hier in einer Traumlandschaft. Ich bekomme jedes Mal ein Kribbeln, wenn ich um die letzte Kurve fahre und nach Hause komme."
So reagieren die Bauern mit konstruktiver Kritik, Widerstand und mit Galgenhumor. Wie damals, als sie beschlossen, Bürger der "Freien Republik Wendland" zu werden, einen Staat im Staat zu gründen. "Ja, natürlich", erklärt Eckhard Tietke als gäbe es keine Alternative. Das war 1978, als Nordiren und Basken mit Freiheitsbestrebungen auf sich aufmerksam machten, da wünschten sich viele Wendländer auch, politisch eigenständig zu sein.
Bürger unter Beobachtung des Geheimdienstes
In den vergangenen Jahrzehnten sei es immer wieder vorgekommen, dass "Spitzel" durch die Dörfer im Wendland fuhren, die Höfe nachts ausleuchteten und sich umsahen. Eckhard Tietke ist sich sicher, dass der Verfassungsschutz die Protest-Bürger im Visier hat.
Der Streit um das Zwischenlager und ein mögliches Endlager für radioaktiven Atomschrott, direkt vor der Haustür, spalte seit drei Jahrzehnten ganze Familien, gibt der Landwirt zu. "Bei Familienfeiern bilden sich schon in den ersten zehn Minuten zwei Lager." Denn es gibt durchaus Befürworter des Zwischen- und eines möglichen Endlagers.
Atommüll-Friedhof als Konjunkturprogramm
"Das sind die konservativen, traditionelle CDU-Wähler und jene, die in den Anlagen einen Arbeitsplatz gefunden haben", sagt Monika Tietke. Denn der Landkreis Lüchow-Dannenberg galt als einer der ärmsten und strukturschwächsten in der Bundesrepublik. Er war dünn besiedelt und gehörte zum sogenannten Zonenrandgebiet. Hinter Gorleben begann die DDR.
Und als Niedersachsens Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU) am 22. Februar 1977 in einer Ansprache im Regionalfernsehen verkündete, Gorleben werde Standort für das zentrale deutsche nukleare Entsorgungszentrum, herrschte Kalter Krieg. Gorleben sollte die Antwort auf Morsleben sein. In diesem Dorf, 120 km östlich von Gorleben, hatte die DDR-Führung 1973 die Genehmigung eines Endlagers für radioaktive Abfälle erteilt.
Politische Entscheidung für Standort Gorleben
Auch die damalige Bundesregierung unter Kanzler Helmut Schmidt (SPD) und die Atomwirtschaft hatten sich für Gorleben ausgesprochen. In dem kleinen Dorf an der Elbe sollten ein atomares Zwischenlager, eine Wiederaufbereitungsanlage für verbrauchte Brennstäbe und tief unter der Erde, im Salzstock, ein Endlager für Atommüll entstehen.
Die Politik setzte voll auf Atomstrom, seit die Ölkrise 1973 die Preise für Benzin und Heizöl hatte in die Höhe schießen lassen. 50 Atomkraftwerke (AKW) sollten in Deutschland gebaut werden, schließlich entstanden 17. Überall formierten sich Proteste. Auf dem Land würden sie auf weniger Widerstand treffen, glaubten die Politiker.
Anfangs gehörte auch Eckhard Tietkes Vater zu den Befürwortern, weil er CDU-Anhänger war. Aus Tradition. Doch je mehr sich die Bewohner des Landkreise Lüchow-Dannenberg, zu dem Gorleben gehört, über das Gefahrenpotential der radioaktiven Hinterlassenschaft informierten, desto skeptischer wurden die meisten und wählten fortan die Grünen. Heute sind alle, die hier leben, Atom-Experten wie die Tietkes. Natürlich waren sie schon einmal unten im Erkundungssalzstock für das mögliche Atommüll-Endlager, dass sie für nicht geeignet halten. "Der Arendsee hier in der Nähe entstand im 17. Jahrhundert, weil der Untergrund an mehreren Stellen einbrach", argumentiert Eckhard Tietke. Nicht auszudenken, wenn die Oberfläche des Salzstocks einbräche und der strahlende Abfall aus einem möglichen Endlager ins Grundwasser gelangte. "Warum haben die die Eingänge in dem Salzstock so breit gemacht? Wenn sie nur erkunden wollte, hätten kleinere Durchbrüche auch gereicht", zweifelt Monika Tietke auch die Ehrlichkeit der heutigen Politikergeneration an: "Die haben sich doch längst für Gorleben entschieden."
Trotzdem habe der massive Protest verhindert, dass in Gorleben das weltweit größte Entsorgungszentrum errichtet wurde. Und der Protest dauert an. Die Medien tun ihr übriges, den Widerstand aufrecht zu erhalten. Kein Tag vergeht, ohne dass die örtliche Elbe-Jeetzel-Zeitung über das Thema berichtet.
Gorleben – Wiege des deutschen Widerstands
Gorleben ist mittlerweile zum Zentrum der Atomkraftgegner aus der ganzen Republik geworden. Seit dem 14. August 2011 blockieren AKW-Gegner die meisten Zugänge zum Erkundungsbergwerk, singen oder proben beim Blockadetraining, wie man gewaltfrei Widerstand gegenüber der Polizei leisten kann. Und die ebenfalls anwesenden Polizisten müssen zuschauen.
Aus Solidarität: Gorleben als neue Heimat
Die langwierige Diskussion um die Lagerung von Atommüll hat dazu geführt, dass sich Intellektuelle, Schriftsteller und Künstler im Wendland angesiedelt haben. Und sie führte dazu, dass die Bewohner der idyllischen Heidelandschaft offensichtlich bewusster leben. Gor-leben eben. Die Häuser in den zahlreichen Gemeinden im Kreis sind liebevoll gestrichen, in den Gärten sprießen satte Blumen in allen Farben, überall sieht man Tiere herum laufen. Eine Gegend, in der man Urlaub machen möchte. Unterkünfte gibt es hingegen wenige. Vielleicht schreckt der Name Gorleben ab, weil Synonym für eine unsichtbare Gefahr, die aus den Castoren strahlt, obwohl die fest verschlossen sind.
Sichtbar sind die gelben Holzkreuze, die an vielen Häusern hängen. Sie symbolisieren das X, das im Englischen für Strahlung steht und vor dem Tag X warnt, an dem der Atomschrott unter der wendländischen Erde verschwinden könnte.
35 Jahre Widerstand prägen
"Wir sind nicht dauernd im Alarmzustand, das könnte man gar nicht überleben", sagt Monika Tietke. Aber der Widerstand hat doch Wirkung gezeigt. Seit 1980 bewirtschaften die Tietkes ihren Bauernhof nach ökologischen Maßstäben, betreiben daneben einen Ökoladen. Außerdem hat sich Eckhard Tietke mit der Verarbeitung von ökologischen Dämmstoffen für Häuserfassaden ein zweites geschäftliches Standbein aufgebaut. Insofern wurde Familie Tietke inspiriert, nach Alternativen zu suchen, um die Umwelt weniger zu belasten. In den nächsten Wochen wollen die Vertreter von Bund und Ländern Grundlagen für ein Gesetz vorlegen, um auch nach Alternativen zu Gorleben als Endlagerstandort zu forschen.
Dass man Gorleben aufgeben werde, nachdem die Kosten für die Erkundung mehr als 1,6 Milliarden Euro verschlangen, glauben die Tietkes nicht. "Aber ich würde drei Kreuze machen", seufzt Eckhard Tietke. "den ewigen Kampf muss ich nicht haben." Und seine Frau fügt hinzu: "Wir möchten den nach wissenschaftlichen Kriterien bestmöglichen und sichersten Umgang mit diesem Atommüll. Und wo dieses Lager dann sein wird, muss man sehen."