Cornelia Funke: "Die Welt ist fantastisch"
7. Oktober 2016Hellwach und fröhlich klingt Cornelia Funke, als sie morgens um halb zehn kalifornischer Ortszeit zum Telefonhörer greift. Da war sie schon am Meer, hat geschrieben, Telefonate erledigt und natürlich den guten Kaffee getrunken, mit dem, wie sie sagt, jeder ihrer Arbeitstage beginnt.
Immer wieder lacht sie herzlich. Dann spricht sie nachdenklich und mit warmer Stimme über ihr Leben, über ihre Arbeit mit Worten und Bildern, über ihr Verhältnis zu Phantasie und Wirklichkeit. Mit Cornelia Funke, deren phantastische Romane international erfolgreich sind und mit einer Gesamtauflage von 20 Millionen Büchern in 37 Sprachen übersetzt wurden - möchte man stundenlang weiterreden...
DW: Sie haben mal gesagt, die Welt ist voller Geschichten - welche finden Sie besonders erzählenswert?
Cornelia Funke: Mich interessieren immer Geschichten, in denen es auch um Menschen geht. Obwohl ich immer mehr denke, dass unsere Spezies eine ziemlich problematische auf diesem Planeten ist. Ich bin auch fasziniert von Geschichten, die von einem bestimmten Ort gespeist werden. Das war ja schon beim "Herr der Diebe" so, den es ohne Venedig nicht geben würde. Orte spielen in den Geschichten, die ich erzähle, immer die Rolle eines Helden. Mich interessiert auch immer das Nicht-Menschliche und unser Verhältnis dazu - ob Pflanze, Tier oder Fabelwesen. Mich interessiert alles, was an der sogenannten Realität, die wir uns zimmern, kratzt und sie in Frage stellt.
Was kratzt an Ihrer Realität?
Wenn ich etwa in Hamburg auf einen der "Stolpersteine" stoße, die an Juden erinnern, die deportiert wurden, dann kratzt das enorm an der Realität, in der ich mich gerade befinde - nachdem ich vielleicht gerade ganz friedlich auf dem Isemarkt war. Es kratzt an meiner Realität, wenn ein Vogel an mir vorbeifliegt und ich mir vorstelle, wie der die Welt sieht. Es kratzt an meiner Realität, wenn jemand an mir vorbeigeht, der eine andere Hautfarbe als ich hat. Wie prägt das seine Wirklichkeit? Es kratzt ständig an meiner Realität, dass man diese Welt auf so unterschiedliche Weise wahrnehmen kann - und deshalb finde ich es immer recht absurd, wenn ich gefragt werde, warum ich Phantastisches schreibe. Die Realität ist phantastisch. Und die einfachste Art, der Wirklichkeit näher zu kommen, ist, phantastisch zu schreiben.
Schöpfen Sie daraus Ihre Fantasiewelten?
Die Welt ist fantastisch, da muss ich nichts schöpfen. Jeder, der versucht, der Wirklichkeit der Welt etwas näher zu kommen, stellt fest, dass sie in ihrer Substanz fantastisch ist.
Man braucht sich nur in einer großen Stadt umzusehen und sich klar zu machen, dass alles, was man sieht, von Menschen gemacht ist. Menschen geben sich so unglaublich gern der Illusion hin, dass sie das alles im Griff haben, dass wir bestimmen, wie unser Leben abläuft, wie diese Welt funktioniert, dass wir die sind, die diesen Planeten zerstören können. Dabei wird es genau umgekehrt sein: Dieser Planet wird uns zerstören.
Diese menschenzentrierte und so unreflektierte Art, die Welt zu sehen, wird natürlich immer wieder durch so wirkliche Dinge wie Krankheit, Alter oder Tod erschüttert - aber wir finden immer wieder Wege, diese Realitäten, unsere Existenz zu verdrängen oder sogar zu leugnen.
Sie sind ja auch gelernte Illustratorin. Hilft es Ihnen beim Schreiben, dass Sie in Bildern denken?
Was war zuerst da - Henne oder Ei? Bin ich Illustratorin, weil ich visuell denke? Oder ist das visuelle Denken stärker geworden, weil ich schon immer gezeichnet habe? Ich würde fast sagen: Zuerst kommt das visuelle Denken, dann der Versuch, es in Bilder zu fassen. Wenn man gut zeichnen kann – und das konnte ich Gott sei Dank schon immer - macht es das natürlich leichter. Aber ja: Mein Schreiben ist zutiefst geprägt von der Tatsache, dass ich ein sehr visueller und bildlicher Mensch bin und den Worten misstraue.
Misstrauisch gegenüber Worten? Geben Sie uns ein Beispiel?
Wir versuchen uns mit Worten permanent dem zu nähern, was keine Worte hat. Musik ist dem Wort oft überlegen, weil sie die wortlosen Dinge ausdrücken kann - Worte haben schließlich immer etwas Abstraktes, vom Verstand Kontrolliertes, was ihnen eine gewisse Begrenztheit gibt. Nur in der Lyrik löst sich das manchmal auf, weil die Bedeutung sich nicht unmittelbar erschließt. Wenn man wie ich Prosa schreibt, geht es darum, das zwischen die Worte zu weben, was nicht wirklich Worte hat. Das kann man zum Beispiel über den Klang von Sprache machen. Der Klang beinhaltet immer noch mehr als das Wort selbst. Aber da endet es auch leicht.
Schwingt da etwa Selbstkritik mit?
Ich würde nicht sagen Selbstkritik. Ich würde eher sagen Kritik an dem Material, mit dem ich arbeite. Ich empfinde mich als Handwerker, als Bildhauer mit Worten. Das Wort, mein Werkstoff, hat eine gewisse Begrenztheit, mit der ich ständig kämpfe. Und manchmal tue ich das erfolgreicher, und manchmal weniger erfolgreich. Das ist, als ob ich ein Bild male - mal gelingt es besser, mal schlechter, je nachdem, wie ich Farbe und Pinsel benutze.
In "Die Feder eines Greifs", dem zweiten Band Ihrer Drachenreiter-Saga, bricht die Hauptfigur Ben zu einer heiklen Mission auf. Er will die Pegasusse vor dem Aussterben retten. Wollen Sie Ihren jungen Lesern da eine Botschaft vermitteln?
Ich bin eigentlich immer vorsichtig mit Botschaften, aber mit diesem Buch bin ich tatsächlich am weitesten in diese Richtung gegangen. Die Entfremdung unserer Kinder von der Welt halte ich für wesentlich bedrohlicher als die Empörung: "Oh Gott, Kinder lesen nicht mehr!" Kinder gehen zu viel zur Schule. Ihnen wird alle Zeit genommen, die Welt ganz direkt zu erleben. Sie wird ihnen nur noch durch den Filter von Erwachsenen vermittelt und durch das, was wir als wichtiges Wissen empfinden. Kinder haben keine Zeit mehr, draußen zu spielen. Sie werden überhaupt nicht mehr unbeaufsichtigt gelassen.
Ich werde demnächst hier in den Bergen zehn Hektar Land kaufen, es wild lassen und dort Projekte machen, mit denen ich Stadtkinder in die Natur bringe. Mir macht große Sorgen, dass Kindern die Natur verloren geht und damit das Gefühl für diese Welt.
Dann ist "Die Feder eines Greifs" also ein Mutmach-Buch"?
Ja! Wenn es mir gelingt, dass Kinder danach Frösche retten oder doch noch mal einen Orang-Utan in der Wildnis sehen wollen, dann würde ich mich darüber sehr freuen.
Sie haben auch mal gesagt, Kinder sollten ihre Träume sehr, sehr ernst nehmen. Und sie sollten niemandem glauben, der ihnen sagt, dass man sie nicht wahr machen kann. Wovon, Frau Funke, träumen Sie?
Im Moment träume ich von diesem Stück Land. Und ich träume davon, dass Baumhäuser und Indianerzelte darauf stehen und dass ich Stadtkinder da habe, die keine Angst mehr davor haben, dass ihnen eine Eidechse über die Hände läuft. Das ist im Moment mein größter Traum.
Das Gespräch mit Cornelia Funke führte Stefan Dege.