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Die verlorene Generation

Sabine Kinkartz, Berlin9. Juli 2015

Ob Syrien, Irak, Süd-Sudan oder Somalia: Fast 60 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Mehr als die Hälfte davon sind Kinder und Jugendliche. Ihre Lebensumstände sind niederschmetternd.

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Syrien Krieg des IS in Tel Abyad (Foto: DPA)
Bild: picture-alliance/dpa/S. Suna

Sie heißen Haitham, Mariam, Omar und Youssef und sind zwischen 12 und 18 Jahre alt. Sie sind mit ihren Familien von Syrien nach Jordanien geflohen und müssen nun im fünften Jahr damit fertig werden, dass ihr noch junges Leben ausnahmslos aus Warten besteht. "Ich möchte nach Hause und in die Schule gehen", sagt der 13-jährige Haitham und dabei laufen ihm die Tränen die Wangen hinunter. "Ich lebe ohne Hoffnung und Träume", sagt Youssef und Mariam ergänzt: "Ich fühle mich völlig nutzlos." Der zwölf-jährige Omar zeigt seine grauen Haare, die ihm wachsen, seit er bei einem Granatenangriff verletzt wurde.

Die Berichte der Kinder klagen an. Christoph Waffenschmidt, der Vorstandsvorsitzende der Kinderhilfsorganisation World Vision hat sie in Jordanien aufgezeichnet und mit nach Deutschland gebracht. Es ist das Nichtstun, das die Kinder zermürbt. Zwar sind sie der unmittelbaren Bedrohung ihres Lebens entkommen. Aber im Lager Azraq in Jordanien, das in der Wüste aufgebaut wurde, leben sie hinter einem großen Zaun im Nirgendwo. "Das Lager ist ordentlich aufgebaut und funktioniert", lobt Waffenschmidt, "aber letztendlich sind die Menschen dort geparkt und ohne Perspektive."

Türöffner für Extremisten

"Die Kinder kennen nichts mehr als innere und äußere Heimatlosigkeit", sagt Waffenschmidt. Das Empfinden von Sinnlosigkeit und Resignation habe unter den jungen Flüchtlingen im letzten Jahr massiv zugenommen. "Das ist ein Türöffner für extremistische Gruppierungen, die diesen Jugendlichen eine vermeintliche Zukunft bieten, sie vor allem mit Belohnung und Perspektive locken." World Vision drängt vor allem auch darauf, für die Kinder einen regelmäßigen Schulbesuch sicherzustellen und Schulaufholprogramme einzurichten. "Investitionen in Kinder sind entscheidend für die Entwicklung eines Landes", betont Waffenschmidt.

Syrischer Junge in einem Klassenzimmer (Foto: AP)
Es besteht ein Hunger nach BildungBild: Alice Martins/AFP/Getty Images

Über vier Millionen Syrer sind bis heute aus ihrem Land geflohen. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR listet Syrien auf Platz eins der sieben größten Herkunftsländer von Flüchtlingen. Es folgen Afghanistan, Somalia, Sudan, Südsudan, Kongo und Myanmar. Insgesamt sind weltweit fast 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Den größten Teil von ihnen bilden die sogenannten Binnenvertriebenen, die innerhalb ihres eigenen Landes fliegen. In Syrien sind das nach Angaben des UNHCR 7,6 Millionen Menschen.

Die Nachbarländer nehmen auf

Diejenigen, die das Land verlassen haben, sind in den Libanon, nach Jordanien oder in die Türkei gegangen. Etwa eine halbe Million Syrer haben sich in den Irak gerettet. Auch in Afrika fliehen die meisten Menschen in ihre unmittelbaren Nachbarländer. Kenia versorgt seit Jahren mehrere Hunderttausend Menschen aus Somalia und dem Südsudan in völlig überfüllten Flüchtlingslagern. Vor allem das jüngste Land der Welt, das an diesem Donnerstag (09.07.) seinen vierten Geburtstag feiert, versinkt weiterhin im Bürgerkrieg und Chaos.

Das kann Martin van de Locht vom Kinderhilfswerk World Vision nur bestätigen. Gerade war er im Südsudan unterwegs und hat dort in einem Flüchtlingslager in Agany die 16-jährige Aissa getroffen, die sich um ihre vier jüngeren Geschwister kümmern muss, seit ihre Eltern bei einem Überfall vor den Augen der Kinder erschossen wurden. Aissa und ihre Geschwister wurden in einem Flüchtlingslager in Khartum geboren, sie kennen kein anderes Leben. Auch van de Locht hat Fotos mitgebracht. Die Blicke der Kinder sind leer, ihre Gesichter von Kummer und Hoffnungslosigkeit gezeichnet.

Forderungen an die Politik

Doch es könnte noch schlimmer werden. Nach Angaben von World Vision droht im Südsudan eine akute Hungersnot. Schon jetzt seien 250.000 Kinder im Land akut vom Hungertod bedroht. Angesichts der steigenden Not reichen die Finanzmittel der Hilfsorganisationen nicht aus, um die Bevölkerung zu versorgen. World Vision appelliert daher an die Geberländer, mehr Geld zur Verfügung zu stellen. Deutschland und die EU sollten sich zudem stärker in den Friedensprozess für den Südsudan engagieren und "eine gemeinsame starke Position vertreten", formuliert World Vision.

Ärzte ohne Grenzen Südsudan Flüchtlinge (Foto: AP)
250.000 Kinder sind im Südsudan akut vom Hungertod bedrohtBild: AFP/Getty Images/H. Mcneish

Fünf Punkte umfasst der Forderungskatalog, den die Hilfsorganisation bei der Vorstellung ihres Jahresberichts vorgelegt hat. Sie reichen von politischem Druck über die Einforderung des Waffenstillstands bis hin zu einem Stopp von Waffenlieferungen. Vor Ort müsse ein umfassendes Waffenembargo durchgesetzt werden. Schließlich müsse aber auch ein Versöhnungsprozess auf lokaler Ebene eingeleitet werden.

Kinder können helfen

"Kinder müssen in Friedensprozesse eingebunden werden", fordert Christoph Waffenschmidt. Seine Organisation arbeite in den Projekten schon sehr früh mit Kindern und Jugendlichen und bilde sie aus, gewaltfrei Konflikte zu lösen und demokratische Verhaltensweisen zu praktizieren. Doch auch für diese Projekte brauchen die Helfer Geld. World Vision setzt in diesem Zusammenhang große Hoffnungen in die UN-Konferenz zur Entwicklungskonferenz, die in Kürze in Addis Abeba stattfinden wird.