Die vergessenen Geschichten der Warschauer Ghetto-Kinder
11. November 2005Eine umstrittene Pipeline, Streitereien um die Vertreibung und Misstrauen in der Politik: Es knirscht gewaltig im Gebälk der deutsch-polnischen Beziehungen. Je morscher das Dach, desto fester das Fundament, könnte man paradoxerweise meinen. Denn es sind transnationale Netzwerke, gemeinsame Projekte und nicht zuletzt eine Art privater Entspanntheit, die das Herz des deutsch-polnischen Verhältnisses bilden.
Eine Organisation, die sich um das sensible Thema der gemeinsamen Geschichte kümmert, ist der Verein "Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V." Vom 1. Dezember 2005 an wird der Verein gemeinsam mit dem Jüdisch-Historischen Institut in Warschau 485 Schicksale auswerten, die bislang keine Rolle in der Aufarbeitung der Vergangenheit gespielt haben: Jüdische Kinder, die Ghettos und Vernichtungslager überlebt hatten und unmittelbar danach (1944-47) zu ihren Erlebnissen befragt worden waren. Für Andreas Eberhardt, Geschäftsführer des Vereins, sind die vergessenen Quellenbestände von großer Bedeutung: "Wenn man zum Beispiel überlegt, welche Wirkung das Tagebuch der Anne Frank gehabt hat, bei der ja ihr Leben in den Konzentrationslagern gar nicht vorkommt, dann kann man sich vorstellen, was diese Berichte auslösen könnten."
Gemeinsames Schulbuch
Das Ziel des vierköpfigen deutsch-polnischen Teams ist aber nicht die Quellenerschließung an sich, sondern die Zusammenführung der Ergebnisse in einem Schulbuch für deutsche und polnische Schüler. Mit im Boot sitzt deshalb das Institut für Lehrerbildung und Schulforschung der Universität Leipzig. Eberhardt hat die Erfahrung gemacht, dass auch in Polen das Schicksal der jüdischen Kinder lange kein Thema war - erst recht nicht in den Unterrichtsmaterialien: "Unser Ansatz ist, dass wir versuchen wollen, mit der Auswertung dieser Quellen gerade junge Menschen zu erreichen. Wir wollen zeigen, dass Geschichte sich nicht nur mit dem Geschichtsbuch beschäftigt, sondern dass hinter der Geschichte einfach die Geschichten von Menschen stehen."
Jeder einzelne der Berichte ist eine solche Geschichte, sagt Eberhardt. Für ihn richten sich die Erlebnisse der Zwölf- bis Achtzehnjährigen an Gleichaltrige: "Vielleicht finden sie ein Stück ihrer Lebenswelt wieder; vielleicht können sie sich hineinversetzen. Ich glaube, dass es sehr viel einfacher ist, das Schicksal eines Verfolgten an sich herankommen zu lassen, als die unbegreiflich hohe Zahl von sechs Millionen ermordeten Juden."
Junge Zeugen der Grausamkeit
Dabei ist sich Eberhardt durchaus bewusst, dass der Umgang mit der Geschichte und die Erwartungen an ein Schulbuch bei polnischen und deutschen Schülern unterschiedlich sein können. Deshalb sollen sowohl die Quellenedition, als auch die daraus hervorgehenden Unterrichtsmaterialien von einer Kommission erprobt werden.
Die Quellensammlung soll Ende 2006, das Schulbuch 2007 vorliegen. Eine Hauptarbeit dürfte die Übersetzung der Berichte werden, denn die meisten sind in polnischer, russischer und jiddischer Sprache abgefasst. Fünf der 485 Quellen sind in deutscher Sprache. Hochdramatisch und bewegend seien diese Zeugnisse, sagt Eberhardt. Die Dimensionen könne man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Ein Beispiel hat ihn besonders verstört: "Ein 17-jähriger Junge schildert, wie eine Gruppe Juden bei einer Razzia der Deutschen im Versteck verharrt. In diesem Versteck verliert eine jüdische Frau die Nerven und fängt an zu schreien. Sie gefährdet damit die ganze Gruppe. Jemand aus der Gruppe erwürgt die schreiende Frau. Wer ist Täter, wer ist Opfer?"
Suche nach Fördermitteln
Nicht nur solche tragischen Geschichten, sondern auch Berichte aus dem "Alltag" in den Ghettos will das deutsch-polnische Team als Lehrmaterialien aufbereiten. Außerdem versuchen die Wissenschaftler, möglichst viele der damaligen Kinder ausfindig zu machen. Doch das wird wohl eher der abschließende Teil des Projekts sein.
Die derzeit dringlichste Aufgabe ist, Geld für das Projekt zu beschaffen, so Eberhardt. Nach mehr als drei Jahren Vorarbeit sollen jetzt die ersten Gelder fließen. Die Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft", die zur Entschädigung der ehemaligen NS-Zwangsarbeiter gegründet worden war, wird das Projekt zu einem Teil unterstützen. Eberhardt rechnet insgesamt mit Kosten von voraussichtlich 77.000 Euro. Zuviel für den Verein, der sich im Wesentlichen über die Beiträge seiner 2300 Mitglieder und aus Spenden finanziert.
Insbesondere für den Druck der Bücher sucht Eberhardt noch nach Finanziers. Jeder Euro dafür ist gut angelegt, meint Eberhardt: "Ich finde, dass solche Projekte sehr viel mehr bewirken als große Reden zur Völkerverständigung. Wir wollen gerne zusammen mit Polen dieses Themenfeld bearbeiten. Auch um zu zeigen, dass es heute ein anderes Deutschland gibt, aber auch um zu zeigen: Das ist Polen heute."