Der Abschied vom gleichberechtigten Internet
14. Dezember 2017Erst knapp drei Jahre ist es her, dass die USA die Netzneutralität festgeschrieben hatten. Netzneutralität heißt, Daten werden im Internet strikt gleich behandelt - unabhängig vom Inhalt, dem verwendeten Programm oder Dienst, dem Absender oder Empfänger. Demnach darf kein Netzbetreiber Inhalte oder Programme der Konkurrenz blockieren oder verlangsamen, um andere zu bevorzugen.
Das Bekenntnis der USA dazu war 2015 ein Erfolg für Netzaktivisten. "Das Internet ist das ultimative Werkzeug für die freie Meinungsäußerung", hatte der damalige Chef der US-Aufsichtsbehörde für Telekommunikation FCC, Tom Wheeler, gesagt. Den Providern dürfe nicht die Funktion eines "Schleusenwärters" zufallen, der über die verfügbaren Netzinhalte entscheidet.
"Deregulierung führt zu Investition"
Ajit Pai, sein Nachfolger an der Spitze der FCC, sieht das ganz anders. Er ist der Auffassung, der Markt müsse sich ohne politischen Einfluss selbst regulieren, denn die Regeln seien investitionsfeindlich. In einem Gastbeitrag im "Wall Street Journal" argumentierte Pai: Blieben die Regulierungen bestehen, müssten Amerikaner in einigen Regionen Jahre auf schnellere Internetleitungen warten.
Schon 2015 war Pai Teil des Gremiums und hatte dagegen gestimmt, als die Aufsichtsbehörde den Zugang zu Breitband-Internet als Teil der öffentlichen Grundversorgung einstufte, ähnlich des Zugangs zu Wasser-, Strom- oder Telefonnetzen. Nun ist er der Leiter der Behörde und die Zustimmung für seinen Vorstoß galt als sicher.
Kein festgeschriebenes Gesetz
Genau das ist die Achillesferse der Netzneutralität in den USA: Sie ist bisher nur eine regulatorische Entscheidung einer Behörde und nicht gesetzlich verankert. "Wenn sich die Administration ändert, dann hat sie mehr oder weniger im Alleingang die Möglichkeit, dieses entscheidende Gremium neu zu besetzen und diese Regeln schlicht aufzuheben", erklärt Tomas Rudl. Der Journalist beschäftigt sich bei dem Portal "netzpolitik.org" mit Infrastrukturthemen, darunter auch die Netzneutralität. Das Portal versteht sich als journalistisches Angebot für digitale Themen, aber mit der eindeutigen Haltung für absolute Netzneutralität und digitale Freiheitsrechte.
Konkret heißt das: Die FCC-Mitglieder werden vom US-Präsidenten auf fünf Jahre benannt und vom Senat bestätigt. Maximal drei der fünf Mitglieder dürfen derselben Partei angehören. Aktuell ist die Kommission mit drei Republikanern und zwei Demokraten besetzt. Entsprechend fiel dann auch die Entscheidung im Verhältnis 3:2.
Diese Arbeitsweise ist Jessica Rosenworcel ein Dorn im Auge. Sie ist eine der beiden demokratischen Mitglieder. "Da läuft etwas nicht richtig, wenn ein paar nicht gewählte FCC-Beamte solche weitreichenden Entschlüsse über die Zukunft des Internets fassen", schrieb sie einem Beitrag für die "LA Times".
Sie warnt: Ohne Netzneutralität könnten Internetanbieter den Zugang in schnelle und langsame Bahnen aufteilen und den Datenverkehr von Plattformen bevorzugen, die dafür gezahlt haben. Alle anderen könnten auf "holprige Straßen" geschickt werden. Die Annahme, dass die Deregulierung zu mehr Investitionen führen würde, bezeichnet Rosenworcel als "fragwürdig" - und kritisierte damit Pai, ohne ihn beim Namen zu nennen.
Die andere demokratische Kommissarin, Mignon Clyburn, sagte am Tag der Abstimmung, das Ende der Netzneutralität händige "einer Handvoll Multi-Milliarden-Dollar-Unternehmen" die Schlüssel zum Internet aus. Michael O'Rielly - republikanischer Kommissar - meint dagegen, die Abschaffung werde "das Internet nicht zerstören".
Mehr Geschwindigkeit gegen Geld
Vereinfacht gesagt könnten Internetanbieter für Premiumdienste mehr Geld verlangen, wahlweise vom Verbraucher oder von einem Programm, um einen störungsfreien Dienst zu ermöglichen. Gleichzeitig kann der Internetanbieter eigene, ähnliche Produkte bevorzugt behandeln, sodass der Kunde - subtil oder offensiv - dazu gebracht wird, eben das eigene Produkt zu nutzen, statt das der Konkurrenz. Zwar versicherten die US-Anbieter, dass sie legale Inhalte weder blockieren noch drosseln werden, kündigten aber an, dass sie möglicherweise gegen Bezahlung Prioritäten bei der Weiterleitung setzen.
Sogar namhafte Firmen und Persönlichkeiten haben sich angesichts der drohenden Abschaffung pro Netzneutralität positioniert. In einem offenen Brief an den US-Kongress mit dem markigen Titel "Sie verstehen nicht, wie das Internet funktioniert" riefen 21 Internet-Pioniere und Führungskräfte auf, die Abstimmung beim FCC zu verhindern. Mitunterzeichner: Tim Berners-Lee, Erfinder des World Wide Web und Steve Wozniak, Apple-Mitbegründer.
Kirchlicher Beistand
Selbst katholische US-Bischöfe setzen sich für das offene und freie Internet ein. Gemeinnützige Organisationen und Glaubensgemeinschaften könnten es sich nicht leisten, Geld auszugeben, um mit profitorientierten Inhalten konkurrieren zu können, heißt es von der US-Bischofskonferenz. Dieselbe Sorge - mangelnde Konkurrenzfähigkeit - gilt auch für viele kleine, neugegründete Internetunternehmen.
Nun könnte man der Argumentation der Internetanbieter und auch des Kommissars O'Rielly folgen, frei nach dem Motto: Dann wird es in den USA eben wieder wie vor 2015, bis dahin hatte es ja auch funktioniert. Bedingt, meint Tomas Rudl von netzpolitik.org. Zwar habe sich die Industrie relativ gut daran gehalten, einzelne Datenpakete gleichberechtigt zu behandeln. Dennoch sei es regelmäßig zu Verletzungen der Netzneutralität gekommen: Videotelefonie sei blockiert worden oder Videos des Streamingdienstes Netflix konnten nicht ruckelfrei angesehen werden, um nur Beispiele zu nennen.
Marktkonzentration: Kaum Auswahl für Verbraucher
Verschärfend zur Situation vor 2015 ist für Rudl der Fakt, dass es auf dem Markt der Netzbetreiber eine extreme Konzentration gibt. Verizon, AT&T, Comcast und Charter gehören zu den Großen. Als Verbraucher hat man im schlimmsten Fall keine Alternative, auch wenn ein Anbieter diskriminierende Taktiken einsetze.
In Deutschland ist die Lage für die Netzneutralität etwas gefestigter, da sie nicht wie in den USA auf leicht zu ändernden Regeln beruht, sondern auf einer EU-Verordnung von 2015. Diese will "Regeln zur Wahrung der gleichberechtigten und nicht diskriminierenden Behandlung des Datenverkehrs" schaffen.
"Im Grunde sind die EU-Netzneutralitätsregeln relativ gut", meint Rudl, "aber sie haben einige Schlupflöcher offen gelassen." Die größte Lücke ist für Rudl das sogenannte Zero-Rating. Darunter versteht man, dass Internet- oder Telefonanbieter bestimmte Dienste oder Apps nicht auf das monatliche Datenvolumen anrechnen und man diese Dienste scheinbar kostenlos nutzen kann. Auch das ist eine Möglichkeit, seine eigenen Plattformen dem Kunden auf dem Silbertablett zu präsentieren.
In Deutschland sorgt die Bundesnetzagentur für die Umsetzung der EU-Regeln. Sie prüft die Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) großer Anbieter, ob sie gegen die Netzneutralität verstoßen und geht Beschwerden von Verbrauchern nach. Im Fall von Zero-Rating schöpft die Bundesnetzagentur nach Einschätzung von Rudl ihre Kompetenzen aber nicht aus: Sie hätte es längst verbieten oder Bußgelder verhängen können. Zwar kreidete die Behörde im Herbst dem Anbieter Vodafone einige Details eines Tarifs an, ließ das Zero-Rating per se jedoch durchgehen. "Solche Regulierungsbehörden sind häufig relativ industriefreundlich - unter anderem mit der Begründung, man dürfe potentielle Geschäftsmodelle nicht unterbinden", meint Rudl. Aus Zeitgründen war bei der Agentur selbst an diesem Donnerstag niemand für eine Aussage verfügbar.
"Politisch nur heiße Luft"
Für Rudl liegt der Unterschied zwischen einer engen Auslegung von Netzneutralität und einer aufgeweichten Form auch im politischen Willen. Nach seiner Einschätzung sind die Grünen in Deutschland die einzige Partei, die ein gesetzliches Verbot des Schlupflochs verlangt. Zwar hatten sich auch SPD und FDP in ihren Bundestagswahlprogrammen zur Netzneutralität bekannt - für den Journalisten aber nur auf dem Papier: "Es geht ums Detail. Wenn man nachgräbt, dann bekommt man nichts als heiße Luft." Als Beispiel nennt er die Union: Zwar verteidige sie die Netzneutralität immer wieder, habe sich aber gleichzeitig für möglichst schwache EU-Regeln eingesetzt.