Die unsichtbaren Wunden
24. März 2016Deutsche Welle: Herr Müller-Cyran, Sie sind seit 22 Jahren Notfallseelsorger und haben auch nach den Terroranschlägen von Paris im November vor Ort Überlebende und ihre Angehörigen unterstützt. Was braucht ein Überlebender eines Terroranschlags zuallererst?
Andreas Müller-Cyran: Zunächst ist es wichtig, dass sich die Person sicher fühlen kann. Der Überlebende muss verstehen und spüren, dass die Bedrohungssituation, die er erlebt hat - dass Menschen in ihrer Nähe schießen oder dass es zu Detonationen kommt - vorbei ist. Nach den Attentaten von Paris habe ich mich beispielsweise mit einem Überlebenden in einem Park getroffen. Die Sonne schien. Der Überlebende hatte zuvor direkt gesagt, dass er sich nicht in einem Café mit mir treffen möchte.
Was tun Sie als Notfallseelsorger in den Tagen nach dem Ereignis für die Überlebenden?
Es ist wichtig, dass die Betroffenen das Erlebte zu ihrer eigenen Geschichte werden lassen können. Dafür muss es einen sicheren Rahmen geben. Wir bieten uns als Gesprächspartner an, die kein ermittlungstechnisches Interesse haben, wie die Polizei beispielsweise. Uns können die Betroffenen dann auch Geschichten erzählen, die vielleicht auch sehr brutal und hässlich sind. Geschichten, die ich meiner Familie nicht erzählen möchte, auch aus Rücksicht.
Die Bilder und Videos, die die Medien von den Terrorangriffen in Brüssel und auch von Paris veröffentlichen, sind bereits sehr verstörend, zeigen jedoch wahrscheinlich nur einen kleinen Teil dessen, was ein Betroffener während des Attentats durchmachen musste. Was macht so ein schreckliches und unerwartetes Ereignis mit einem Betroffenen?
Wenn Sie sagen, was macht das mit Einem, dann klingt das sehr passiv. Doch zunächst einmal passiert etwas sehr Aktives. Die Menschen aktivieren in solchen Extremsituationen psychische Ressourcen, die ihnen helfen, zu überleben. Auch, damit sie in der Lage sind, zu fliehen und Entscheidungen zu treffen. Häufig sind in der konkreten Situation keine Ängste und auch keine Panik da. Man ist erst einmal sehr präsent.
Erst später, wenn die äußere Gefahr vorbei ist, holt einen die Situation wieder ein und es kommt zu Irritationen, weil die Menschen dann Gedanken und Gefühle haben, die sie überraschen. Uns ist es sehr wichtig, den Menschen zu sagen, dass sie sich keine Sorgen machen müssen. Wenn sie Albträume haben nachts, wenn sie schreckhaft sind, wenn sie noch übererregt sind. Wir sagen ihnen dann, dass sie nicht verrückt werden, sondern eine normale Reaktion eines normalen und gesunden Menschen auf ein nicht normales Ereignis zeigen. Es ist nicht normal, dass ich Zeuge eines terroristischen Attentates werde. Aber die Reaktionen, die bei mir ausgelöst werden, sind normal und nachvollziehbar.
Erst Paris, dann Brüssel - selbst bei Menschen, die nicht direkt betroffen gewesen sind, steigt die Angst, Opfer eines erneuten Terroranschlags zu werden. Wie kann man jemandem diese Angst nehmen?
Im Grundsatz ist unser Leben immer gefährdet. Eine 100-prozentige Sicherheit hat kein Mensch. Und die meisten Menschen sterben ja auch ganz plötzlich zum Beispiel durch einen Herzinfarkt und nicht durch ein terroristisches Attentat. Man muss sich immer vor Augen halten, dass wir als Gesellschaft tolerieren, dass jeden Tag zehn bis zwölf Menschen im Verkehr sterben. Ich will damit nicht bagatellisieren, was in Brüssel und Paris passiert ist. Ich will einfach nur deutlich machen, dass unser Leben grundsätzlich ein unsicheres ist. Nur müssen die meisten Menschen nicht darüber nachdenken oder machen diese Erfahrung nicht.
Das ist auf der individuellen Ebene noch einmal etwas anderes als auf der gesellschaftlichen. Denn das ist ja genau das Ziel von Terror - die Menschen zu erschrecken. Terror hat mit Erschütterung zu tun, und das ist genau die Intention von Terrorismus: die Gesellschaft zu destabilisieren. Dadurch, dass signalisiert wird, du bist nirgendswo mehr sicher. Wenn das unser Lebensgefühl wäre, würde uns der Terror letztendlich erreichen. Deswegen ist es so wichtig, dass wir den Terror dadurch abwehren, dass wir uns in unserem normalen Leben nicht einschränken und weder der Angst noch dem Terror Platz machen in uns.
Besonders nach Terroranschlägen berichten die Medien stets sehr intensiv. Wie wirkt sich das auf die Betroffenen und ihre Genesung aus?
Überlebende sind manchmal sehr daran interessiert, was wo wann wie genau passiert ist, um eine vollständige Geschichte zu haben und um die Hintergründe und die Zusammenhänge zu verstehen. Und dem Medienkonsum bin ich ja auch nicht passiv ausgeliefert. Ich kann den Fernseher einschalten oder ausschalten, ich kann das Programm wählen.
Wir versuchen die Betroffenen zu ermutigen, aktiv auf sich selber zu achten. Zu schauen, was tut mir jetzt gut und was tut mir jetzt nicht gut. Und was fördert meine Fähigkeit, mit dem Geschehenen umzugehen.
Wir bemühen da immer das Bild eines Ruderers im Ruderboot. Er hat zwei Paddel. Auf der einen Seite ist es gut, mich mit dem Ereignis zu beschäftigen und auf der anderen Seite ist es genauso wichtig, Distanz zu schaffen, sich abzulenken, sich etwas Schönes zu gönnen. Nur wenn ich beide Ruder in gleicher Weise bediene, komme ich mit dem Ereignis zurecht.
Umso schwieriger wird es, wenn ich nur darüber nachdenke und alles im Internet nachlese, dann drehe ich mich genauso im Kreis, wie wenn ich mich nur ablenke und nur versuche, alles zu vergessen, weil vergessen kann man es nie.
Andreas Müller-Cyran ist seit 22 Jahren Notallseelsorger. Er gründete 1994 das erste Kriseninterventionsteam Deutschlands, das KIT München. Dieses ist seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 auch für das Auswärtige Amt im Einsatz. Die ehrenamtlichen Mitarbeiter des Teams helfen immer dann, wenn Menschen Opfer von plötzlichen Unfällen oder anderer Katastrophen werden.
Über seine Arbeit als Notfallseelsorger hat Andreas Müller-Cyran ein Buch geschrieben: "Wenn der Tod plötzlich kommt". Für sein Engagement wurde Andreas Müller-Cyran 2013 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
Das Gespräch führte Greta Hamann