Die Taliban als strategischer Partner
5. September 2012Dass sich der Krieg in Afghanistan allein militärisch entscheiden lässt, glaubt inzwischen auch die US-Regierung nicht mehr. "Politischer Dialog ist der sicherste Weg zu dauerhaftem Frieden und anhaltender Stabilität", erklärt eine Sprecherin des US-Außenministeriums. Seit fast zwei Jahren bemüht sich die Regierung in Washington daher um eine Verhandlungslösung. Doch im vergangenen März brachen die Taliban die Gespräche ab, weil ihnen die geforderte Freilassung von fünf hochrangigen Mitgliedern aus dem Gefangenenlager Guantanamo nicht schnell genug ging.
Noch ist der Gesprächsfaden nicht gerissen, doch worum es bei den informellen Kontakten geht, dringt nur selten nach außen. Mal lassen US-amerikanische Regierungsvertreter an die Presse durchsickern, man habe einen neuen Vorschlag zur Freilassung von Gefangenen gemacht - mal erklären die Taliban, ein Verhandlungsteam sei nach Katar gereist, um eine Tagesordnung für weitere Gespräche zu vereinbaren.
Erfüllbare Forderungen?
Die Forderungen der beiden Seiten sind seit längerem klar: Die USA verlangen, dass die Taliban die Kämpfe einstellen, die afghanische Verfassung respektieren und ihre Verbindungen zu dem Terrornetzwerk Al-Kaida kappen. Die Taliban fordern den Abzug aller ausländischen Truppen, die Freilassung inhaftierter Bundesgenossen und die Anerkennung ihrer Bewegung.
Alle diese Forderungen seien im Prinzip erfüllbar, sofern sie locker interpretiert würden, glaubt Richard Barrett, Leiter der Al-Kaida- und Taliban-Beobachtergruppe der Vereinten Nationen (UN). Dass die USA auch nach dem Abzug der internationalen Schutztruppe ISAF im Jahr 2014 einige Truppen in Afghanistan belassen, müsse kein Hindernis sein. "Die pragmatischeren Taliban rechnen sich aus, dass eine internationale Präsenz auch eine Art Garant der Vereinbarungen wäre und ihnen dabei helfen würde, tatsächlich an der Regierung beteiligt zu werden", sagt Barrett. Auch die Anerkennung der Verfassung durch die Taliban sei denkbar - allerdings nur dann, wenn dies nicht die Anerkennung der verhassten Regierung von Präsident Hamid Karsai bedeute, sondern alle Parteien eine neue Verfassung aushandeln.
Zerrissene Taliban
Die große Frage ist jedoch, ob die Taliban-Führung ein Abkommen mit den USA in den eigenen Reihen überhaupt durchsetzen könnte. Teile der Taliban lehnen die Gespräche rundweg ab, andere sehen sie lediglich als Taktik. Dass es für Pragmatiker sogar gefährlich werden kann, zeigt der Fall von Agha Jan Motasim. Nachdem sich der ehemalige Finanzminister der Taliban-Regierung für eine politische Lösung und gegen die Terrororganisation Al-Kaida ausgesprochen hatte, wurde er vor zwei Jahren in der pakistanischen Großstadt Karatschi von einem Kugelhagel getroffen. Wie durch ein Wunder überlebte er.
Zu den politischen Differenzen komme ein Generationen-Konflikt, glaubt Candace Rondeaux, Expertin der Denkfabrik "International Crisis Group" in Afghanistans Hauptstadt Kabul. Die Loyalitäten innerhalb der Taliban basierten auf einem Geflecht verwandtschaftlicher, regionaler und anderer Verbindungen. In der Führung seien sie zudem entscheidend durch den Bürgerkrieg und den gemeinsamen Kampf gegen die sowjetischen Invasoren geprägt worden. Diese Erfahrung fehlt den jungen Kommandeuren; sie wurden in Flüchtlingslagern und Koranschulen sozialisiert. "Zwischen diesen Gruppen gibt es eine riesige Kluft", sagt Rondeaux. Durch Verluste und Gefangennahmen sind immer weniger ältere Kämpfer aktiv, die diese überbrücken könnten. Nach Schätzungen amerikanischer Experten ist das Durchschnittsalter lokaler Taliban-Kommandeure im Verlauf des Krieges von 35 auf etwa 23 Jahre gesunken.
Spalten und schwächen
Wegen dieser Unwägbarkeiten erklärte unlängst Ryan Crocker, bis Juli US-Botschafter in Kabul, die beste Herangehensweise bestehe darin, einen nennenswerten Teil der Taliban-Führer "abzuschälen". Der UN-Experte Richard Barret sieht darin eine gefährliche Strategie. "Das ist eine sehr traditionelle Verhandlungstechnik, den Feind zu spalten und zu schwächen", sagt Barrett. "Aber wenn man den Frieden sichern will, wäre es besser, eine einige Taliban-Bewegung mit einer echten Autorität über alle Anhänger zu haben."
Noch gilt Mullah Omar als unangefochtener Anführer der Bewegung. Seit dem Zusammenbruch des Taliban-Regimes im Jahr 2001 lebt er versteckt, nur selten wendet er sich in Briefen an seine Anhänger. Möglicherweise verfügt Mullah Omar gerade deshalb noch über Autorität - denn so muss er in vielen Diskussionen keine Position beziehen. Niemand kann jedoch sagen, welches Gewicht sein Wort bei einer umstrittenen Entscheidung hätte. "Es gibt auf allen Seiten die Sorge, dass die Kämpfe selbst dann weitergehen würden, wenn Mullah Omar morgen entschiede, die Waffen niederzulegen", sagt Candace Rondeaux von der Crisis Group.
Ungeklärte Gefangenenfrage
Bevor darüber überhaupt verhandelt werden kann, muss ohnehin die Gefangenenfrage geklärt werden. Die Taliban haben unmissverständlich klar gemacht, dass sie zu keinen weiteren Verhandlungen bereit sind, solange nicht die fünf Guantanamo-Häftlinge gegen einen seit 2009 von ihnen festgehaltenen US-Soldaten ausgetauscht werden. "Die Vereinigten Staaten haben nicht entschieden, inhaftierte Taliban aus Guantanamo zu überstellen", so die Sprecherin des US-Außenministeriums. Über laufende Beratungen oder einzelne Gefangene könne sich die Regierung nicht äußern. Beobachter glauben, dass es noch keine Einigkeit in der Frage gibt, insbesondere soll es Unstimmigkeiten zwischen dem Weißen Haus und dem Verteidigungsministerium geben.
Darüber hinaus steht US-Präsident Barack Obama mitten im Wahlkampf. Dass vor der Wahl im November fünf Taliban - darunter der frühere Vize-Verteidigungsminister des Taliban-Regimes, der für den Tod tausender Schiiten verantwortlich sein soll - freigelassen werden, hält Candace Rondeaux für ausgeschlossen. "Kein Präsident würde sich einer solchen öffentlichen Diskussion aussetzen."
Dennis Stute