Die Streitlust des Historikers
7. Juli 2014Seine streitbare intellektuelle Energie war bemerkenswert. Bis kurz vor seinem Tod beschäftigte sich der Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler mit den aktuellen Gegenwartsfragen in Deutschland, mischte sich pointiert in die Debatte zum Thema Mindestlohn ein - und blickte immer über den fachlichen Tellerrand seines Forschungsgebietes hinaus. Hans-Ulrich Wehler gehört zweifelsohne zu den einflussreichsten deutschen Historikern.
Der Krieg hat ihn geprägt
Geboren wurde Hans-Ulrich Wehler am 11. September 1931 in Freudenberg im Sauerland als Sohn eines Kaufmanns. Die leidvollen letzten Kriegs- und Nachkriegsjahre, die er als Jugendlicher erlebte, prägten ihn Zeit seines Lebens. "Ich habe nie derart gehungert wie in dieser Zeit. Ohne den Schwarzmarkt hätten viele Menschen damals nicht überleben können", erzählte er jüngst in einem Interview. Als Geschichtsstudent lernte er allerdings, dass die Fabrikanten und Unternehmer die Kriegsgewinnler waren. "Selbst der totale Krieg hat nicht mehr als 24 Prozent der deutschen Industrie getroffen, oft auch da eher oberflächlich. Aber die multifunktionellen Werkzeugmaschinen erlaubten blitzartig, dass man am Tag noch Panzer baute und am nächsten Tag schon Busse, Fahrräder und Kochtöpfe."
Studiert hat der junge Wehler in den fünfziger Jahren Geschichtswissenschaft, Ökonomie und Soziologie in Köln und Bonn - auch um die Zusammenhänge zwischen der Geschichte und den ökonomischen Rahmenbedingungen des von ihm oft kritisierten Kapitalismus zu verstehen. "Nach der Schockwirkung zweier verlorener Weltkriege und deren Folgen haben die Leute mit Begeisterung auch 14, 16 Stunden gearbeitet," konstatierte er später als habilitierter Sozialhistoriker. "Die Unternehmer waren daran interessiert, ihre Betriebe in Westdeutschland möglichst schnell wieder in Gang zu bringen."
Vehement gegen die Schlussstrich-Debatte
Nach einem Fulbright-Stipendium an der Ohio-University in Athens wurde Wehler Assistent bei dem renommierten Historiker Theodor Schieder. 1968 habilitierte er sich und ging an das Kennedy-Institut der damals sehr fortschrittlichen Freien Universität Berlin (FU). Er machte sich schnell einen Namen und folgte 1971 dem Ruf an die Universität Bielefeld. Bis zu seiner Emeritierung 1996 profilierte er sich dort als einer der einflussreichsten Reformer seines Faches. Mit der weltweit bekannten "Bielefelder Schule" etablierte er die Sozialgeschichte als Teildisziplin der deutschen Geschichtswissenschaft - eine kleine Revolution in der bis dahin konservativ-restaurativen Geschichtswissenschaft. Den jungen Professoren ging es um die Einbettung der historischen Fakten in die jeweilige Sozialgeschichte.
International bekannt wurde Wehler, als er sich 1986 - zusammen mit den beiden Fachkollegen Hans und Wolfgang J. Mommsen - leidenschaftlich in den eine bundesdeutsche Debatte einmischte: Das monatelange Hin und Her in den Feuilletons großer deutscher Zeitungen, wie der Holocaust wissenschaftlich bewertet werden solle, führte zum legendären "Historikerstreit" - inzwischen auch Teil der deutschen Geschichte. Die jüngeren Historiker unterstützten damals die linke Position des Philosophen Jürgen Habermas. Einen Schlussstrich unter die Nazizeit zu ziehen, lehnten sie strikt ab.
Deutschlands willige Historiker
Auch in der äußerst kontroversen Debatte um das Buch des US-Historikers Daniel Goldhagen "Hitlers willige Vollstrecker. Ganz normale Deutsche und der Holocaust" (1996) bezog Wehler radikal Position und scheute auch den persönlichen Streit mit andersdenkenden Historikern nicht. Das trug ihm den Vorwurf eines "unsachlichen" Beitrags zu der Diskussion ein. 1998 geriet sein Doktorvater Theodor Schieder ins Kreuzfeuer der Kritik: Schieder hatte während der NS-Zeit Abhandlungen über die "Entjudung" polnischer Städte verfasst. Wehler wurde daraufhin eine unkritische Haltung gegenüber seinem Mentor vorgeworfen, weil ausgerechnet er, der doch immer Position bezog, sich in diesem Fall nicht äußerte.
Hans-Ulrich Wehler forschte und unterrichtete weltweit anerkannt in seinem Fach: Er sprach neben Englisch, Französisch auch Spanisch und Polnisch und hatte viele Gastprofessuren unter anderem in Yale, Stanford und Harvard inne. In Deutschland galt er lange Zeit als "enfant terrible" der etablierten Historikerzunft, wurde aber gerade deshalb zu vielen Gastvorträgen eingeladen.
Der Historiker und Publizist Sebastian Haffner nannte ihn den wichtigsten Vertreter der "strukturellen Schule". Wehlers grundlegende fünfbändige "Deutsche Gesellschaftgeschichte von 1700 bis 1991" - nach 25 Jahren Forschung 2008 erschienen - ist ein vielgelobtes Standardwerk. Im letzten Band ging er hart mit der Geschichte der DDR ins Gericht, die aus seiner Sicht als Staat "in jeder Hinsicht gescheitert" sei. Seine 1973 erschienene Analyse des Deutschen Kaiserreichs wurde inzwischen auch ins Japanische und Koreanische übersetzt.
Kapitalismus-Kritiker bis zuletzt
Mit großer Aufmerksamkeit wurden die Stellungnahmen des deutschen Historikers zum "Kampf der Kulturen" und den Terroranschlägen vom 11. September 2001 auf New York und Washington registriert. Er meinte, die muslimische Diaspora sei "im Prinzip nicht integrierbar". 2002 führte sein publizistisches Votum gegen die Aufnahme der Türkei in die EU sogar zu einem persönlichen Streit mit dem damaligen türkischen Ministerpräsidenten Yilmaz.
Wehler sah in dem Beitrittsansinnen einen Angriff auf die europäische Identität, die über Jahrhunderte gewachsen sei. 2008 sparte er auf dem Höhepunkt der europäischen Finanzkrise nicht mit Kritik am ökonomischen System: Durch die fehlende Regulierung der Finanzmärkte träten "all die Eigenschaften zutage, die derzeit beklagt werden: die Gier, die Fahrlässigkeit, aber auch die Dummheit der beteiligten Banker."
In seinem letzten Buch beschäftigte sich Hans-Ulrich Wehler noch einmal intensiv mit den Folgen des "Turbo-Kapitalismus" und der zunehmenden Schere zwischen Arm und Reich. Bis zuletzt mischte sich der Sozialhistoriker ein: Sogar zur Steueraffäre von Fußballmanager Uli Hoeneß vertrat er eine klare Position: "Hoeneß ist ein klassischer Betrüger und - das wird genauso wahrgenommen - er ist signifikant für die Anfälligkeit einiger Tausend, ihrer Habgierigkeit nachzugeben."
Der Geschichtsforscher und Publizist bekam noch im Oktober 2013 den Lessing-Preis für Kritik zugesprochen. Am 5. Juli 2014 ist Hans-Ulrich Wehler im Alter von 82 Jahren gestorben. Bundespräsident Joachim Gauck würdigte den Historiker als "unverwechselbare Instanz" für die Orientierung unserer Gesellschaft. Wehler habe die öffentliche Meinungsbildung bereichert. "Wir verdanken ihm wertvolle Einsichten, die über den Tag hinaus Bestand haben werden", sagte Gauck.