Schule der Zukunft
3. Juni 2013Eine Grundschule im Dortmunder Norden, umgeben von Hochhäusern, in denen fast 1000 Menschen aus 30 Nationen leben. Armut, Arbeitslosigkeit und Sprachprobleme prägen den Alltag der Kinder, die hier aufwachsen. "Unsere Schüler haben nur eine Chance: Bildung", sagt Gisela Schultebraucks-Burgkart. Seit 1994 hilft die Rektorin den Kindern mit ihrem Team von inzwischen 31 Lehrern sehr erfolgreich, genau diese Chance zu nutzen.
Sprachförderung in allen Fächern, klassenübergreifender Unterricht, Lernwerkstätten und eine intensive Zusammenarbeit mit den Eltern haben dazu geführt, dass überdurchschnittlich viele dieser Schüler später auf ein Gymnasium wechseln, nämlich 44 Prozent. Für ihr Konzept wurde die Grundschule Kleine Kielstraße 2006 als erste Schule mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet. Seitdem strömen Besuchergruppen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum nach Dortmund, um zu erleben, wie eine Schule im sozialen Brennpunkt erfolgreich sein kann.
Weg von Frontalunterricht und Leistungsdruck
"Es ist sicherlich ein Effekt des Schulpreises, dass wir mit unserer Idee, Schule zu gestalten, auf so viel Resonanz stoßen", meint die 61-jährige Rektorin. 1994 war die Schule mit ihren Ideen der individuellen Förderung, Team- und Elternarbeit eine echte Pionierin. Inzwischen aber gibt es viele deutsche Schulen, die weg wollen von Frontalunterricht, Leistungsdruck und dem Aussortieren schwacher Schüler.
Immer mehr Initiativen entstehen, die auf eine grundlegende Reform des deutschen Schulwesens drängen. Denn fast in keinem anderen Industrieland spielt das Elternhaus eine so entscheidende Rolle für den Schulerfolg wie in Deutschland. Das sorgt insbesondere unter Einwanderer- und sozial benachteiligten Familien für zahlreiche Schulversager.
Schulreform "von unten"
"Wir brauchen einen radikalen Wandel unseres Schulsystems", meint Margret Rasfeld, Rektorin der Evangelischen Schule Berlin-Zentrum. Weil der nicht "von oben", also aus der deutschen Politik kommt, hat sich die Schulleiterin mit dem Hirnforscher Gerald Hüther und anderen Bildungsexperten zusammengeschlossen und im Sommer vergangenen Jahres die Initiative "Schule im Aufbruch" gegründet.
Wie die Netzwerke "Archiv der Zukunft", "Blick über den Zaun" und die Akademie des von der Robert-Bosch-Stiftung verliehenen Deutschen Schulpreises will auch diese Initiative den Unterricht und das Lernklima an deutschen Schulen verbessern. "Schule hat im 21. Jahrhundert andere Aufgaben als im Maschinenzeitalter", betont Hüther. "Heute ist nicht wichtig, dass man aus der Schule kommt und alles auswendig weiß, sondern heute brauchen wir Menschen, die in einer hoch komplexen Welt Verantwortung übernehmen können."
Schulcoaches helfen beim Wandel
Die neue Initiative hat sich breit aufgestellt. Anfang des Jahres tourte sie mit der "Roadshow Lernlust" durch elf deutsche Städte und erreichte mit ihrer Vorstellung neuer Schul- und Lernkonzepte rund 10.000 Menschen. Ein Projektbüro mit drei Mitarbeitern dient als Anlaufstelle für die Vernetzung interessierter Schulen. 16 regionale Bündnisse sind bereits entstanden.
Neben Kooperationen mit Schulen, die bereits erfolgreich neue Lernideen umgesetzt haben, vermittelt das Büro auch Schulcoaches, die den Reformprozess begleiten. Einer von ihnen ist Ali Döhler vom Aachener Bildungswerk. "Die Schulen stehen unter großem Druck", beobachtet er. "Seit der Pisa-Studie wird einerseits stärker auf Leistung geachtet, andererseits sollen die Klassen - nicht zuletzt mit der Inklusion - deutlich heterogener werden." Ein Spagat, der mit den bisherigen Lern- und Lehrmethoden kaum zu schaffen sei.
Erst Strukturen ändern, dann das Lernen
Entscheidend ist für Döhler, dass Schulen sich nicht mehr als reine Lehranstalten verstehen, sondern Lehrer ihren "Erziehungsauftrag" annehmen - und zu jedem einzelnen Schüler eine Beziehung aufbauen. Doch dafür müssen erst Strukturen geändert werden. Der Unterricht sollte möglichst in einer flexiblen Zeitstruktur, zum Beispiel in Doppelstunden stattfinden. Eine doppelte Klassenleitung und weniger Fachlehrer in einer Klasse sorgen für eine bessere Teamarbeit.
Statt des üblichen Frontalunterrichts plädiert Döhler für mehr Eigen- und Teamarbeit der Schüler. Etwa in sogenannten "Lernbüros", in denen der Stoff mehrerer Fächer zusammengefasst ist und die Schüler entscheiden können, wann sie welches Thema bearbeiten. Die Pädagogen begleiten diesen Lernprozess als "Tutoren". Fünf bis sechs Jahre braucht es nach Döhlers Erfahrung, bis eine Schule sich umstrukturiert hat. Die Reform von "unten", auf die "Schule im Aufbruch" setzt, wird also noch viele Jahre dauern. Aber Döhler ist davon überzeugt, dass sie gelingt, weil die Zeit dafür reif ist.
Selbständiges Lernen bereitet aufs Leben vor
Das glaubt auch Paul Erchinger. Kein Wunder, der 14-jährige Schüler sieht schließlich jeden Tag an sich selbst, dass er an der Evangelischen Schule Berlin-Zentrum viel lernt – und zwar in einer ganz heterogenen Klasse, in der Schüler unterschiedlichen Alters sitzen, die zum Teil behindert, zum Teil aber auch hochbegabt sind.
Jeder Schüler arbeitet mit "Bausteinen" und "Lernbüros" an unterschiedlichem Stoff und in unterschiedlichem Tempo. Dennoch oder gerade deshalb schneiden die Schüler in Lernstandserhebungen hervorragend ab. "Es ist viel besser, selbständig zu lernen", meint Paul. "Später sagt dir ja auch kein Erwachsener mehr, wie du es machen musst."