Die Opfer von Kundus, die es nicht geben sollte
20. März 2013Es ist schon weit nach Mitternacht, als der 25-jährige Qudratullah und sein kleiner Bruder Rahmatullah, 14 Jahre alt, die Tanklaster am Fluss erreichen. Menschen mit gefüllten Kanistern kommen ihnen bereits entgegen. Die Nachricht hat sich herumgesprochen: Es gibt kostenloses Benzin! Kraftstoff, der meist teuer und außerhalb der Städte oft gar nicht erst verfügbar ist.
Ob die Brüder ihren Vater mit einer Ladung Benzin für den Stromgenerator daheim überraschen wollen, ob sie sich bereits auf dessen Lob freuen - Abdul Dayan wird es niemals erfahren. Um 1.49 Uhr in der Frühe bombardieren ISAF-Alliierte das Flussufer und verwandeln es in ein loderndes Flammenmeer. Zusammen mit Abdul Dayans Söhnen finden in dieser Nacht wohl weit über 100 Menschen den Tod, darunter laut Amnesty International über 80 Zivilisten.
Es ist ein Angriff gegen die örtlichen Taliban, die am Vortag jene zwei Tanklastzüge nahe Kundus entführt haben. Ein Angriff, angeordnet vom Kommandeur der deutschen Streitkräfte vor Ort, ausgeführt von zwei Kampfjets des Bündnispartners USA. Die Begründung der deutschen Militärführung vor Ort: "Diese Leute sind eine unmittelbare Bedrohung. Diese Aufständischen wollen sich des Treibstoffs aus den Tanklastern bemächtigen, sich anschließend neu gruppieren und sehr wahrscheinlich, so unsere Geheimdienstinformationen, das Lager Kundus angreifen." So zitiert sie später ein ISAF-Bericht.
Doch bereits unmittelbar nach dem Einsatz keimt der Verdacht, die deutsche Seite habe einen gravierenden Fehler gemacht - ein Fehlverhalten, das in den folgenden Monaten politische Kreise ziehen wird.
Was war geschehen?
Am Nachmittag des 3. September 2009 haben Taliban-Kämpfer die Reifenpanne eines Tanklasters genutzt, um diesen und ein weiteres Fahrzeug in ihre Gewalt zu bringen. Die Ladung: 30.000 Liter Diesel und noch einmal so viel Benzin. Doch die Taliban kommen nicht weit: Knapp vier Kilometer weiter bleiben die Fahrzeuge auf einer Sandbank des nahe gelegenen Flusses stecken. Nachdem alle Abschleppversuche scheitern, fangen die Entführer an, den Treibstoff aus den Tanks abzufüllen - dabei gestatten sie offenbar auch den Anwohnern, sich zu bedienen.
Die Nachricht der entführten Tanklastzüge erreicht das deutsche Feldlager in Kundus und dessen Kommandeur, Oberst Georg Klein, gegen 21 Uhr. Knapp fünf Stunden später gibt er den Befehl zum Angriff. Wer jedoch wann genau über welche Information verfügt und ob die deutsche Einsatzleitung verantwortungsvoll und richtig - ja: legal - entscheidet - das bleibt lange im Dunkeln. Entscheidend zur Aufklärung bei trägt der Untersuchungsbericht des US-Generals und ISAF-Kommandeurs Stanley McChrystal.
Fehleinschätzungen und Ungereimtheiten
Demnach stützen sich Oberst Kleins Entscheidungen nahezu ausschließlich auf die telefonischen Informationen eines afghanischen Informanten. Laut McChrystals Bericht meldet sich der Mann alle 15 bis 20 Minuten mit Hinweisen über die Benzin-abfüllenden Taliban. In jedem Telefonat betont der Informant, dass keine Zivilpersonen aus den nahegelegenen Dörfern in der Nähe seien. Klein entscheidet gegen weitere Aufklärungsversuche - auch dann, als die von ihm angeforderten US-Bomberpiloten mehrfach anbieten, die Angriffsstelle zunächst zu überfliegen, um ein genaueres Bild von der Lage zu erhalten.
Besonders prekär: Klein meldet den alliierten US-Amerikanern, dass am Boden "Feindberührung" und eine "unmittelbare Gefahr" für die eigenen Truppen herrsche - rechtlich eine Voraussetzung für den Kampfjet-Einsatz.
Um 1.49 Uhr werfen die Jets zwei 500-Pfund-Bomben vom Typ GBU38 ab, die in unmittelbarer Nähe der Tankzüge explodieren. Kleins Meldungen an das deutsche Hauptquartier in Masar-i-Sharif sowie an das Einsatzführungskommando in Potsdam erfolgen jedoch erst Stunden nach dem Einsatz: 56 Aufständische seien getötet worden, 14 Kämpfer seien geflohen, zivile Opfer habe es dagegen keine gegeben.
Salami-Taktik - oder: Wer weiß was?
Die deutsche Öffentlichkeit erfährt erst in den kommenden Wochen und Monaten das gesamte Ausmaß der nächtlichen Operation.
Während noch am 11. September der damalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Wolfgang Schneiderhan, das Bombardement "das Resultat einer ganz sorgfältigen Beurteilung der Lage" nennt, mehren sich international die Zweifel am deutschen Vorgehen. Eine afghanische Untersuchungskommission bezeichnet den Angriff als "Fehler" und meldet den Tod von 30 Zivilisten und 69 Taliban. Doch das Verteidigungsministerium beharrt darauf: Der Einsatz war "aus militärischer Sicht notwendig".
Im November sickern neue Informationen durch; Zweifel an der Verhältnismäßigkeit des Einsatzes werden lauter. Dazu kommt ein Wechsel an der politischen Spitze: In der neuen Regierung Merkel hat Ende Oktober der bisherige Verteidigungsminister Franz Josef Jung das Ressort für Arbeit und Soziales übernommen; frisch gekürter Verteidigungsminister ist Karl Theodor zu Guttenberg. Und der greift durch: Am 26. November entlässt er den Generalinspekteur der Bundeswehr. Einen Tag später lässt Franz Josef Jung seinen Rücktritt ankündigen. Anfang Dezember folgt die offizielle politische Kehrtwende: Im Bundestag bezeichnet Guttenberg das Bombardement als "militärisch nicht angemessen".
In den folgenden zwei Jahren untersucht der Verteidigungsausschuss den Fall. Er hört mehr als 40 Zeugen, wertet über 300 Aktenordner aus, verfasst über 550 Seiten Beurteilung. Ergebnis: Im Oktober 2011 bewerten Union und FDP den Luftangriff als völkerrechtskonform. Grüne und Linke dagegen finden den Einsatz unverhältnismäßig und damit sehr wohl völkerrechtswidrig. Die SPD setzt sich zwischen die Stühle: Ein völkerrechtswidriges Verhalten sei zumindest "nicht nachweisbar".
Bis heute ist der Streit auch rechtlich noch nicht ausgestanden: Bereits im November 2009 verlangen vier Bremer Anwälte vom Bundesverteidigungsministerium Entschädigung für 79 Hinterbliebene des Angriffes. In einer Reihe von Verfahren vor dem Landgericht Bonn hat an diesem Mittwoch (20.03.2013) der erste Prozess begonnen. In zehn Sammelklagen fordern die Hinterbliebenen zusätzlichen Schadenersatz in Höhe von insgesamt 3,3 Millionen Euro.