"Die Not ist nach wie vor real"
1. März 2017Rund 16.000 Flüchtlinge sitzen auf den griechischen Inseln fest. Seit dem Inkrafttreten des EU-Türkei-Abkommens im Frühjahr 2016 dürfen sie nicht auf das Festland reisen, bis ihre Asylanträge bearbeitet sind. Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl wirft der Bundesregierung vor, die Aufnahme von Flüchtlingen aus Südeuropa zu verschleppen. Deutschland hat sich verpflichtet, bis September 2017 im Rahmen des sogenannten Relocation-Programms 27.500 Flüchtlinge aus Italien und Griechenland aufzunehmen. Bislang seien lediglich knapp zehn Prozent in die Bundesrepublik gelangt, kritisiert Pro Asyl.
Auch die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen fordert die Bundesregierung in einer Stellungnahme zum schnellen Handeln auf. Obwohl sich die Bedingungen zuletzt in einigen Lagern verbessert hätten, "müssen in den überfüllten EU-Hotspots auf den griechischen Inseln und in einigen Lagern auf dem Festland weiterhin Menschen in Zelten leben, haben ungenügenden Zugang zu Sanitäranlagen und kaum Privatsphäre", heißt es in der Mitteilung. Jochen Ganter war von Mai bis Februar Projektkoordinator von Ärzte ohne Grenzen in mobilen Kliniken im Athener Flüchtlingslager Elliniko. Das Camp umfasst unter anderem alte Olympia-Spielstätten und einen stillgelegten Flughafen.
DW: Herr Ganter, wenn in den Medien über die Lage von Flüchtlingen in Griechenland berichtet wird, geht es häufig um die prekären Bedingungen auf den griechischen Inseln. Wie unterscheidet sich die Situation in Athen von der auf Lesbos oder Samos?
Jochen Ganter: Auf dem Festland sind die Umstände von Camp zu Camp unterschiedlich, vor allem hinsichtlich der Unterkünfte. Die überwiegende Zahl der Asylbewerber wurde von der griechischen Regierung in Lagerhäusern oder ehemaligen Industrieanlagen untergebracht, wo sie oft in Zelten in den Gebäuden leben müssen. Das Flüchtlingshilfswerk hat inzwischen für einige Flüchtlinge, die ins Relocation-Programm oder in die Familienzusammenführung kommen, Hotels und Wohnungen zur Verfügung gestellt. Das ist natürlich kein Vergleich zu den Inseln, wo ein Großteil der Flüchtlinge nach wie vor draußen in Zelten lebt. Auch in Elliniko haben wir verschiedene Situationen: In einem Lager etwa leben 400 bis 500 Menschen in Zelten, die im Freien stehen. Im alten Flughafen befinden sich die Zelte dagegen innerhalb des Gebäudes. In der Klinik im Stadtzentrum betreuen wir aber auch Menschen, die in anderen Unterkünften in Athen - etwa in Wohnungen - untergebracht sind oder in besetzten Häusern leben.
Wie steht es um die medizinische Versorgung der Flüchtlinge in der Hauptstadt? Mit welchen Erkrankungen hatten Sie es zu tun?
An körperlich bedingten Krankheiten gibt es dort das komplette Spektrum dessen, was wir auch in Deutschland erwarten würden. Dadurch, dass viele Flüchtlinge in Zelten untergebracht sind, gibt es allerdings eine deutlich erhöhte Zahl an Erkältungen. Wir haben auch mit vielen älteren Flüchtlingen zu tun, die an chronischen Krankheiten leiden. Wenn wir über psychische Gesundheit sprechen, ist das eine ganz andere Geschichte.
Inwiefern?
Die psychischen Belastungen für diejenigen, die in Griechenland festsitzen, werden unterschätzt. Zu den Traumata, die die Menschen aus den Kriegsländern oder von der Reise mitbringen, kommt noch eine weitere Schicht von Frustration, Depression und Hoffnungslosigkeit. Die Flüchtlinge wissen: Ich bin jetzt da, aber es geht nicht weiter. Wenn einem bewusst ist, man hat vielleicht irgendwann eine Chance auf eine Umsiedlung oder Familienzusammenführung, aber eben nicht in zwei Wochen, sondern - wenn überhaupt - in mehreren Monaten, nimmt einem das jede Lebensenergie. Einige Flüchtlinge sind ja schon seit fast einem Jahr in Zelten untergebracht.
Griechenland hat zwar langsam angefangen, die Kinder ins Schulsystem zu integrieren, aber sie haben überhaupt keine Chance, Fuß zu fassen oder sich dort irgendwie eine Zukunft aufzubauen. Viele Eltern wollen einfach das Beste für ihre Kinder, das wird in der Diskussion über Migration häufig vergessen. Diese Generation geht vielleicht irgendwann zurück oder wird in den Aufnahmeländern Bestandteil der Gesellschaft, aber was geben wir ihr dafür mit? Es ist wirklich hart, wenn man in Deutschland Kinder im gleichen Alter kennt und weiß, welche Perspektiven sie haben.
Spätestens seit der Räumung des Flüchtlingslagers in Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze im Mai 2016 ist die Medienaufmerksamkeit zurückgegangen. Hat sich das in Ihrer Arbeit bemerkbar gemacht?
Nein. Es gibt weltweit viele Projekte, bei denen wir wissen, dass sie nicht im medialen Fokus sind, aber die Not ist nach wie vor real. Da darf man sich als Helfer vor Ort nicht in die Irre führen lassen. Beim Wintereinbruch in Griechenland hat die Medienaufmerksamkeit zugenommen, jetzt ist sie wieder abgeflaut, aber das lenkt uns nicht von unserer Tätigkeit ab.
Im Januar schlugen Hilfsorganisationen Alarm, weil sich die Lebensbedingungen auf den Inseln durch Schnee und niedrige Temperaturen dramatisch verschlechtert hatten. Ist die Lage inzwischen besser unter Kontrolle?
Das kommt darauf an, welchen Maßstab man setzt. Wer Flüchtlingslager in anderen Teilen der Welt kennt, könnte in Versuchung kommen zu sagen, dass die Situation völlig in Ordnung ist. Wenn man aber bedenkt, dass wir uns in Europa befinden, ist es eben nicht in Ordnung. Allein in Elliniko leben nach wie vor Leute in Zelten, ob innerhalb oder außerhalb von Gebäuden. Das wäre in einer Notsituation eine adäquate Reaktion. Meiner Meinung nach kann es aber nicht sein, dass ein Jahr später immer noch Flüchtlinge so untergebracht sind.
Ist damit zu rechnen, dass sich die Lage entspannt, wenn die Temperaturen wieder steigen?
Natürlich sind mit der Kälte Schwierigkeiten dazugekommen. Sich aber auf das Wetter zu verlassen, wäre eine Milchmädchenrechnung. Genau das ist letztes Jahr passiert. Man ist davon ausgegangen, dass der Winter nicht so hart wird und hat sämtliche Maßnahmen verschleppt, bis es in Griechenland tatsächlich geschneit hat. Für die Flüchtlinge, die in Zelten leben, sind die Bedingungen zu jeder Jahreszeit schlecht: Im Winter ist es zu kalt, im Sommer ist es mit teilweise 35 Grad zu stickig. Wenn man sich einen Standard setzt für eine lebenswürdige Unterbringung von Flüchtlingen in Europa, darf man sich nicht auf den Wetterbericht verlassen.
Hat sich die Situation im Vergleich zu 2015 und 2016 insgesamt verbessert?
Es hat sich schon etwas verändert. Durch den Deal zwischen der EU und der Türkei und die geschlossenen Grenzen haben wir natürlich eine stabilere Flüchtlingszahl. Wer angekommen ist, hat Hilfe erhalten, die Lebenssituation ist, abgesehen von den Zelten unter freiem Himmel auf den griechischen Inseln, insgesamt besser. Es hat sich was getan, aber wir können uns mit der Situation nicht zufriedengeben, weil sie nach wie vor weit davon entfernt ist von dem, was wir als menschenwürdig betrachten würden.
Das Interview führte Helena Kaschel.