Die NATO im Afghanistan-Dilemma
17. Februar 2021Setara Hassan kämpft schon seit Jahren an vorderster Front für Frauenrechte in Afghanistan. Mit ihrem rein von Frauen für Frauen geführten Fernsehsender Zan TV gibt sie allen Afghaninnen im Land die Möglichkeit, ihre eigenen Geschichten in ihren eigenen Worten zu erzählen. Hassan hat auch ein Projekt ins Leben gerufen, das Frauen helfen soll, sich aus der Armut zu befreien. Im "Epizentrum der Nachhaltigkeit" werden benachteiligte Frauen darin geschult, öffentliche Plätze zu desinfizieren, um die Ausbreitung des Coronavirus im Land einzudämmen. Doch die Gewalt im Land nimmt zu, die Gespräche mit den Taliban stocken und die Zukunft der internationalen Schutztruppen im Land ist unsicher. Setara Hassan befürchtet das Schlimmste - möglicherweise sogar einen neuen Bürgerkrieg.
"Ich wäre gern optimistisch", sagt sie. "Es wäre Zeit für das afghanische Volk, sich an einen Tisch zu setzen und einen echten Friedensvertrag auszuhandeln. Doch wie viele andere Afghanen habe ich die Hoffnung verloren, weil die Gewalt im Land während der Friedensgespräche erneut eskaliert ist."
Hassan erzählt, dass die in ihrem derzeitigen Projekt beschäftigten Frauen die Situation im Land sehr genau beobachteten: "Keine Frau in Afghanistan will, dass das alte Regime wieder an die Macht kommt und ihr tägliches Leben, ihre Berufsaussichten, ihre eigenen Bildungschancen und die ihrer Kinder wieder zunichte macht."
Drohende Rückkehr des Bürgerkrieges
Ein im Februar 2020 geschlossenes Abkommen zwischen den USA und den Taliban sieht vor, dass alle US-Truppen und mit ihnen auch die anderen internationalen Streitkräfte das Land bis Ende April 2021 verlassen sollen, wenn die Bedingungen hierfür erfüllt seien. Zu diesen Bedingungen gehört, dass die Taliban jegliche Aktionen unterlassen, die "die Sicherheit der USA und ihrer Verbündeten gefährden", dass sie weiter konstruktiv an den Friedensgesprächen für das Land teilnehmen sowie alle Verbindungen zu anderen internationalen Terrorgruppen kappen.
Der neue US-Präsident Joe Biden hat als eine seiner ersten Amtshandlungen eine kritische Überprüfung dieses Abkommens angekündigt. Ende Januar sagte Pentagon-Sprecher John Kirby, dass die "Taliban ihre Bedingungen nicht eingehalten hätten" und es daher "sehr schwer sei, eine Zukunft für die ausgehandelten Vereinbarungen zu sehen."
Eine Afghanistan-Expertengruppe mit Sitz in Washington verlangte bereits vom US-Präsidenten, das Abzugsdatum zu verlegen. Geführt wird diese Gruppe unter anderem vom ehemaligen Kommandeur der US-Streitkräfte in Afghanistan, Joseph Dunford. Sie kommt zu dem Schluss, dass "ein Abzug der Truppen im Mai unter den derzeitigen Bedingungen sehr wahrscheinlich zu einem Zusammenbruch des afghanischen Staates und möglicherweise zu einem Wiederaufflammen des Bürgerkrieges führen" werde. Als Folge daraus käme es zu einer "Wiederherstellung der terroristischen Bedrohung in den USA innerhalb der nächsten 18 bis 36 Monate."
Anfang der Woche beeilte sich NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg zu versichern: "Wir werden das Land nicht verlassen, bevor die Zeit dafür reif ist." Doch diese Worte beruhigen Setara Hassan nicht. Sie glaubt, dass die derzeitige Hängepartie in der Frage, wie lange die internationalen Truppen tatsächlich noch in Afghanistan präsent sein werden, die afghanische Gesellschaft destabilisiere und die Taliban stärke. Schon jetzt rüsteten diese im ganzen Land wieder auf. Erst am Samstag veröffentlichten die Taliban ein Statement, in dem sie die USA dazu aufforderten, sich an das vereinbarte Abzugsdatum zu halten.
"Für jeden Afghanen ist das eine sehr, sehr beunruhigende Situation", sagt Hassan, "zu erleben, dass die internationale Gemeinschaft, die eigentlich mit dem Anspruch gekommen war, langfristigen Frieden, Demokratie, soziale Gerechtigkeit und den Schutz der Menschenrechte durchzusetzen, Afghanistan jetzt an einem derartig kritischen Wendepunkt verlassen könnte." Die Regierung in Kabul brauche die durch die Anwesenheit internationaler Truppen gewährleistete Sicherheit, während sie an einem endgültigen Waffenstillstandsabkommen und an einem umfassenden Friedensvertrag mit den Taliban arbeite. Innerhalb der nächsten zwei Monate, glaubt Hassan, sei ein solches Abkommen jedoch undenkbar.
Mehr Druck aus Washington?
Der ehemalige US-amerikanische Nationale Sicherheitsberater, Ex-General Doug Lute, verlangt von der afghanischen Regierung, nicht nur ihre militärischen Fähigkeiten zu verbessern, sondern auch mehr politische Verantwortung zu übernehmen. "Bislang", sagt Lute, "haben wir nicht genug darauf geachtet, dass die afghanische Regierung mit einer Stimme sprechen und ihre ethnischen Streitereien beiseite legen muss. Denn der einzige Weg raus aus der verfahrenen Situation ist, dass Afghanen mit Afghanen an einem Tisch sitzen und über die Zukunft Afghanistans verhandeln. Diese Erwartungen müssen wir der afghanischen Regierung klarmachen. Das haben wir bislang nicht deutlich genug getan."
Lute sagt, in der derzeitigen Debatte lenke die Fixierung auf die bloße Truppenstärke in Afghanistan davon ab, dass sich die Rolle der Soldaten vor Ort grundlegend gewandelt habe. "20 Jahre lang hat die afghanische Politik die militärische Kampagne unterstützt. Doch in den vergangenen Jahren hat sich das Verhältnis umgekehrt. Jetzt sind es die Truppen, die den politischen Prozess unterstützen. Das ist ein sehr wichtiger Unterschied."
Auch die besten Bemühungen der afghanischen Regierung bräuchten mehr Zeit, sagt Setara Hassan. "Geben Sie nicht auf", beschwört sie die NATO. "Für das afghanische Volk, für die internationale Sicherheit, für diejenigen, die ihre Angehörigen in Afghanistan verloren haben. Diesen Menschen", sagt sie, "schulden wir es, Afghanistan nicht aufzugeben. Nicht jetzt!"