Die Mauer – Fakten, Bilder, Schicksale
12. August 2011Im September 1961 steht ein Vater am offenen Fenster eines Wohnhauses auf Ostberliner Seite, unmittelbar an der Grenze. Unten, schon im Westen, sind Feuerwehrleute versammelt. Die Mutter springt in die Tiefe und wird aufgefangen. Der Vater wirft seinen vierjährigen Sohn hinunter. Ins Sprungtuch. In die Freiheit. Und springt selbst hinterher. Fotoreporter und Zeitungsjournalisten dokumentieren die dramatische Flucht.
Fluchten: Gelungene und gescheiterte
Achtzehn Jahre später, die deutsch-deutsche Grenze ist weiter ausgebaut und befestigt worden, starten zwei Thüringer Familien ein regelrechtes Himmelfahrtskommando. Sie flüchten mit einem selbst genähten Heißluftballon nach Bayern. Nach knapp halbstündigem Flug landen sie im Nirgendwo. Auf einem Feld entdecken sie einen Traktor mit West-Kennzeichen. Die Flucht ist geglückt.
1986 will der 25 Jahre alte Michael Bittner in den Westen fliehen. Mit einer Leiter und zu Fuß versucht er, die Grenzhindernisse zu überwinden. Der Flüchtling wird entdeckt und von Grenzsoldaten in den Rücken geschossen. Michael Bittner stirbt noch im Todesstreifen.
Leben im Schatten der Grenze
Das Leben mit und an der Grenze, hinter dem Stacheldraht, bestimmt den Alltag sehr vieler Menschen in der DDR, auch jener, die zunächst an Flucht noch nicht denken. Meinhard Schmechel beispielsweise hat im Dorf Rüterberg in Mecklenburg gewohnt. Der Ort liegt direkt an der Grenze zu Niedersachsen. Zu DDR-Zeiten ist er eine regelrechte Festung. Hinein und heraus dürfen die Bewohner nur nach intensiven Kontrollen. Besuche von außerhalb gibt es nur ausnahmsweise. Wenn es dunkel wird müssen die Straßen leer sein. Abends um elf wird das Tor abgeriegelt. Wer sich verspätet, gilt als "Grenzverletzer" und kassiert eine Verwarnung.
Es sind vor allem die Geschichten von Menschen, ihren Erfahrungen und Erlebnissen, die den besonderen Wert des Buches ausmachen. "Die Mauer – Fakten, Bilder, Schicksale" ist eine Gemeinschaftsarbeit mehrerer Autoren, herausgegeben von Bild-Chefredakteur Kai Diekmann, zusammen mit der "Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur". Es will nicht nur nüchtern informieren, sondern es spricht auch Gefühle an. Es will die Erinnerung wach halten an die Menschen, die unter der Teilung gelitten haben – und an jene, die für Grenze und Mauertote verantwortlich gewesen sind. Beeindruckend sind dabei die vielen historischen Fotos, darunter besonders die Porträts: Das kleine Mädchen, das mit seinem Teddybär im Arm auf einem Koffer sitzt. Zwei Volkspolizisten, halbe Kinder noch, mit Schaufeln beim Ausbau des Todesstreifens. Ein Student mit Eimer, Handschuhen und Arbeitsgerät, der gerade einen Fluchttunnel gräbt. Ein erschöpfter Grenzer an der Mauerkrone. Ein junger Mann im blauen Schlauchboot unmittelbar vor der Mauer, ein seltsames Sommeridyll von 1984.
Fakten – nüchtern und pathetisch
Die Informationskapitel zeichnen die Vorgeschichte des Mauerbaus nach, skizzieren die Ereignisse am 13. August 1961, Flucht und politische Verfolgung, den Ausbau der Grenze, bis hin zu ihrem Fall. Übersichtlich, knapp, faktenreich und doch die Leser nicht überfordernd. Gelegentlich schleicht sich ein pathetischer Ton in die Texte ein – das ist ärgerlich, aber letztlich hinnehmbar.
Autorin: Cornelia Rabitz
Redaktion: Gabriela Schaaf
Kai Diekmann (Hg:): "Die Mauer - Fakten, Bilder, Schicksale". Sachbuch. München 2011. Piper Verlag. 14,99 €