Die Macht der Terrorgruppe ISIS
11. Juni 2014Erstmals patrouillieren Kämpfer des "Islamischen Staates im Irak und in Syrien" (ISIS) in einer irakischen Millionenstadt. Nach heftigen Gefechten hatten die radikalen Sunniten am Dienstag (10.06.2014) die Provinz Ninive samt der Provinzhauptstadt Mossul erobert. Darüber hinaus fielen Einheiten der Organisation, die auch unter der Abkürzung ISIL bekannt ist, in die Landesteile Salaheddin und Kirkuk ein. Einen Angriff auf die Stadt Baidschi im Süden der Region Salaheddin konnten Regierungstruppen abwehren. Über der westlichen Provinz Anbar weht schon seit Anfang des Jahres das schwarze ISIS-Banner. Auch im benachbarten Syrien hat die Gruppe weite Gebiete erobert. Ihr Ziel ist ein Staat zwischen Mittelmeer und dem Irak, in dem eine besonders rigorose Auslegung des Islam Gesetz ist.
Der Vorstoß auf Mossul war nach Einschätzung von Falko Walde, Irak-Experte der Friedrich-Naumann-Stiftung, eine Überraschung für die Regierung in Bagdad. Aus dem Nichts heraus sei die Attacke jedoch nicht gekommen. ISIS sei stetig stärker geworden. Dafür gebe es eine Reihe von Gründen. Zunächst profitiere die im Irak und in Syrien aktive Gruppe von der durchlässigen Grenze zwischen den beiden Staaten. "So können Kämpfer und Waffen hin und her bewegt werden", sagt der Nahost-Fachmann. Hinzu komme die zähe Regierungsbildung in Bagdad nach den jüngsten Wahlen. "Der vermeintlich starke Mann Iraks, Premierminister Nuri al-Maliki, bangt um eine weitere Amtszeit. Es gibt ein Machtvakuum", erläutert Walde.
Besonderen Zulauf beschert ISIS der Konflikt zwischen der sunnitischen Minderheit und der schiitischen Mehrheit im Irak. Viele Sunniten fühlten sich von der schiitisch dominierten Regierung in Bagdad benachteiligt. Das ist laut Walde der perfekte Nährboden für ISIS, die gezielt sunnitische Städte destabilisiere. "Sie haben sich regelrecht darauf spezialisiert, Unruhe zu stiften und auszunutzen", sagt der Mitarbeiter der Naumann-Stiftung.
Hunderte von Angriffen zermürben die Armee
Die ISIS-Kämpfer verfolgen offenbar eine vielschichtige Taktik. Die Gruppe sei um Mossul tief verwurzelt, sagt Aymenn Jawad al-Tamimi von der US-Denkfabrik Middle East Forum. Dort habe ISIS hunderte Male im Monat zugeschlagen. Das habe die Sicherheitskräfte immer mehr zermürbt. Außerdem habe ISIS durch Ölschmuggel und Schutzgelderpressung eine solide finanzielle Basis in der Region aufgebaut. Zusätzlich schaffe es die Gruppe, andere sunnitische Milizen auf ihre Seite zu ziehen.
In Anbar sympathisieren auch sunnitische Stammesmilizen, denen es nicht um einen Gottesstaat geht, mit den ISIS-Kämpfern. Sie eint der Hass auf die Regierung in Bagdad. Dass auch andere Kampfverbände im Windschatten von ISIS ihre Ziele verfolgen, habe der Sturm auf Mossul deutlich gemacht, sagt der Extremismus-Experte Al-Tamimi. "Es ist klar, dass andere Gruppen wie die Nakschibendi-Armee dies ausnutzten." Zur Nakschibendi-Armee gehören unter anderem Mitglieder des 2003 gestürzten Baath-Regimes von Diktator Saddam Hussein. Auch Gruppen in der Region Kirkuk seien auf den Zug aufgesprungen.
ISIS entstand aus dem von Abu Bakr al-Bagdadi geführten "Islamischen Staat im Irak". 2012 mischte sich al-Bagdadi im Bürgerkrieg im Nachbarland Syrien ein und baute dort die islamistische Al-Nusra-Front mit auf. Doch die Allianz hielt nicht lange. Während die Al-Nusra-Front heute in Syrien im Namen des Terrornetzwerkes Al-Kaida kämpft, operiert ISIS in Syrien und dem Irak eigenständig. Im vergangenen April stießen ihre Einheiten bis Abu Ghraib in der Nähe von Bagdad vor. ISIS-Mitglieder sind wegen ihrer Grausamkeit gefürchtet. Deshalb sind im Nordirak nun eine halbe Million Menschen auf der Flucht.
Mossul für ISIS-Kämpfer nur eine Etappe
Mit der ISIS-Machtübernahme in Mossul muss die Regierung in Bagdad laut Falk Walde von der Naumann-Stiftung ihre Strategie ändern. Die von ISIS eroberte Provinz Anbar sei vor Monaten von der Regierung abgeriegelt und vernachlässigt worden. "Das geht jetzt nicht mehr. Mossul ist eine wichtige Exportroute für Erdöl", betont der Irak-Experte. Außerdem müsse die Regierung in Bagdad davon ausgehen, dass ISIS seinen Vormarsch fortsetzen wolle. Mossul sei nur eine Etappe. Das sei bereits jetzt an den Kämpfen in den angrenzenden Provinzen zu sehen. Die Gruppe werde noch mehr Zulauf bekommen und sich gegenüber den anderen islamistischen Milizen profilieren.
Der irakische Regierungschef Maliki rief in seiner Hilflosigkeit die Zivilbevölkerung auf, den sunnitischen Extremisten Widerstand zu leisten. Damit schürt er vermutlich noch mehr den konfessionellen Konflikt im Land. Schiitische Milizen kündigten bereits an, zum Kampf bereit zu sein. Das ist möglicherweise Anlass für noch mehr Sunniten, sich hinter ISIS zu scharen. Dann ginge das Kalkül der sunnitischen Extremistengruppe auf.