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"Die Leute haben sich verändert, die Regierung nicht"

Fabian Kretschmer23. Juni 2016

In Südkorea haben die Bergungsarbeiten der Sewol-Fähre begonnen. Beim Untergang vor zwei Jahren kamen über 300 Menschen ums Leben. Die Regierung versuche heute noch, das eigene Versagen zu vertuschen, so der Vorwurf.

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Zeltlager im Seouler Zentrum (Foto: DW)
Bild: DW/F. Kretschmer

Als Yoon Kyung-hee ihre Tochter am Morgen des 15. April 2014 zur Schule fährt, sind die Straßen von Ansan, einer Vorstadt 30 Kilometer südlich der Hauptstadt Seoul, ungewöhnlich verstopft. Sobald sie das Schultor erreichen, springt die 16-jährige Shi-yeon hektisch aus dem Wagen, denn sie geht auf eine Klassenfahrt, ihre letzte große Reise vor dem Abitur. Kaum fünf Minuten später überkommt die Mutter ein schlechtes Gewissen, ihre Shi-yeon nicht ordentlich verabschiedet zu haben. Also schickt Kyung-hee eine aufmunternde Kurznachricht, ihre Tochter antwortet mit einem lustigen Selfie - ihr letztes Bildnis.

Was in den Folgestunden passiert, wird als eine der größten Tragödien der südkoreanischen Nachkriegszeit in die Geschichte eingehen. Über 300 Menschen sinken mit der Sewol-Fähre in den Tod, die meisten von ihnen waren Schüler. Die Ursache der Katastrophe ist heute noch nicht klar. Zu lang ist die Kette an menschlichem Versagen. Die meisten Südkoreaner sprechen längst von einem Unglück mit System.

Die Sewol-Fähre sank am 28.04.2014. Mehr als 300 Menschen starben. (Foto: Reuters)
Die Sewol-Fähre sank am 28.04.2014. Mehr als 300 Menschen starbenBild: picture-alliance/dpa

Kette an menschlichem Versagen

Die 20 Jahre alte Fähre hätte eigentlich aufgrund ihrer technischen Konstruktion niemals aus dem Hafen auslaufen dürfen. Doch unter der wirtschaftsfreundlichen Vorgängerregierung vom Präsident Lee Myung-bak lockerte man die Gesetze in Südkorea. Zudem luden die Schiffsbetreiber die Fähre mit dem Zweifachen des zugelassenen Gewichts, ohne die Fracht ordnungsgemäß zu sichern. Obwohl der Wellengang an jenem Vormittag keinesfalls bedrohlich war, kenterte das Schiff vor der Südwestküste Koreas.

Zwei Jahre später bleiben die meisten Fragen der Angehörigen unbeantwortet. Vor allem die Regierung stellt sich einer gründlichen Aufarbeitung in den Weg. "Warum verstecken sie sich?", fragt sich Shi-yeons Mutter jeden Tag, "die Leute mögen sich nach der Sewol-Tragödie verändert haben, aber die Regierung nicht." Längst sind jedoch genügend Details ans Tageslicht gekommen, die den Schluss zulassen: Der Tod von 302 Menschenleben hätte nicht nur verhindert werden können, sondern müssen.

Die Tochter von Yoon Kyung-hee starb auf Sewol. (Foto: DW)
Die Tochter von Yoon Kyung-hee starb auf SewolBild: DW/F. Kretschmer

Die Besatzung hatte über zwei Stunden Zeit, beim Evakuieren der Fähre zu helfen. Stattdessen haben einige von ihnen Bier getrunken, während sie auf das erste Rettungsschiff warteten, mit dem sie den Unglücksort verließen. Den Schülern gaben sie die fatale Anweisung, an Bord zu bleiben und abzuwarten. Nur jene Schüler, die sich dem widersetzt haben, wurden gerettet.

Schwierige Bergungsarbeiten

Die Presse durfte nicht frei über das Unglück berichten. Unter Eid sagte ein leitender Redakteur des öffentlichen Rundfunks KBS aus, eine Direktive aus dem Präsidentensitz erhalten zu haben, die Rettungsarbeit der Küstenwache nicht zu kritisieren.

In ihrer letzten Stunde rief die 16-jährige Shi-yeon aus dem Schiffsinneren ihre Mutter an. "Die Rettungsboote kommen bestimmt bald, als Nächstes ist unsere Klasse dran", sagte sie, die Stimme noch voller Hoffnung. Als ihre Leiche später geborgen wurde, hielt sie das Handy fest umklammert.

Anfang des Monats haben nun die Bergungsarbeiten begonnen. Glatt laufen die Arbeiten jedoch nicht. Aufgrund der Stürme, die Südkorea im Frühsommer wegen der Regenzeit heimsuchen, werde das Schiff wohl frühestens im August geborgen, möglicherweise erst im September, so die amtliche Verkündung. Ebenso räumte das zuständige Fischerei-Ministerium ein, dass es im Zuge der Hebungsversuche zu zwei meterlangen Rissen im Schiffsrumpf gekommen sei.

Aktivisten im Zeltlager (Foto: DW)
Aktivisten im ZeltlagerBild: DW/F. Kretschmer

Gedenkstätte im Seouler Zentrum

Lee Hoe-cheol verweist mit einem Zeigefinger auf die beschädigte Stelle. Vor sich hat er einen detaillierten Schiffsplan der Sewol-Fähre ausgebreitet. Lee ist selbst Vater von zwei Kindern, engagiert sich freiwillig und fordert eine gründliche Untersuchung des Unglücks durch die Regierung. Er sitzt in einem kleinen Zelt, das ihm seit über einem Jahr bereits als Büro dient. Klapptisch mit Laptop, mehrere Aktenschränke, ein Standventilator kämpft gegen die sengende Juni-Hitze an.

Wenn er über die Bergungsarbeiten redet, verfinstert sich seine Mine. "Erneut schirmt die Regierung die Hinterbliebenen ab", sagt Lee. Es sei kein Zufall, dass die Familien erst durch einen lokalen Beamten bei einem Privatgespräch von den Schäden am Schiff erfahren hätten. Wenig später sei dieser versetzt worden. Überprüfen lassen sich Lees Aussagen nicht.

Sein Zelt befindet sich inmitten des Seouler Stadtzentrums, nur einen Steinwurf vom Rathaus entfernt. Hier haben die Aktivisten ein Camp errichtet, das als Gedenkstätte und Ort der Begegnung dient. An diesem Vormittag schlendern jedoch nur ein paar Touristen an den Ständen entlang, die meisten Passanten eilen mit Tunnelblick an den Aktivisten vorbei. Eine 22-jährige Studentin, auf dem Weg zu ihrem Praktikum, sagt: "Um ehrlich zu sein, haben viele in meinem Alter das Sewol-Unglück fast schon vergessen."

Die Gedenkstätte ist unweit vom Seouler Rathaus entfernt. (Foto: DW)
Die Gedenkstätte ist unweit vom Seouler Rathaus entferntBild: DW/F. Kretschmer

Vergessen statt Aufarbeiten

Kritiker meinen, dass der Regierung ebenfalls daran gelegen wäre, das Unglück einfach zu vergessen. Zuerst wollte sie einen unabhängigen Untersuchungsausschuss verhindern, doch das gelang ihr nicht. Ebenso scheiterte sie, die Aufführung eines kritischen Dokumentarfilms auf dem landesweit größten Filmfestival zu verhindern. Dessen künstlerischer Direktor hielt dem politischen Druck stand, woraufhin die Stadtregierung die Fördergelder des Festivals strich. Präsidentin Park Geun-hye kann bis heute nicht einmal beantworten, wieso sie selbst für ihre engsten Berater in den ersten sieben Stunden nach Bekanntwerden des Sewol-Unglücks nicht auffindbar war. Journalisten, die der Recherche nachgehen, drohen Verleumdungsklagen.

In diesem Nährboden des Misstrauens halten sich auch Vorwürfe, die manche als Verschwörungstheorien abtun. Dem Schiffsbetreiber der Sewol etwa werden Verbindungen zum Geheimdienst nachgesagt. Für einen ebenso fahlen Beigeschmack sorgen die Radardaten der Schiffsbetreiber, des Militärs und der Sewol selbst, die sich teilweise eklatant unterscheiden. Auch dass das Schiffsunglück absichtlich herbeigeführt worden sein könnte, glauben einige Aktivisten. Schließlich ist Versicherungsbetrug in der südkoreanischen Schiffsbranche ein unausgesprochenes Geheimnis.

Auch Yoon Kyung-hee, die Mutter der verstorbenen Shi-yeon, geht solchen Fragen auf den Grund. Sie besucht die Pressekonferenzen der Regierung, sitzt bei Gerichtsprozessen in der ersten Reihe und trägt ihren Protest regelmäßig auf die Straße. Das gebe ihr Kraft und Halt, sagt sie. Wenn die 40-Jährige das Engagement junger Menschen sieht, die im gleichen Alter wie ihre Tochter sind, dann glaubt sie fest an einen baldigen Generationswechsel für ihr Land.