Die Lehrstunde der Solidarność
14. Dezember 2020Es war ein Montag im Dezember, zehn Tage vor Heiligabend. Eine Woche war es her, seit Willy Brandt vor dem Warschauer Ghetto-Mahnmal niedergekniet war und die Bundesrepublik Deutschland die Oder-Neiße Grenze de facto anerkannte.
In der Volksrepublik Polen herrschte Parteichef Władysław Gomułka über einen Staat des "ständigen Mangels", erzählt Przemysław Ruchlewski vom Europäischen Solidarność-Zentrum. Die Menschen gaben fast die Hälfte ihres Monatslohns für Lebensmittel aus. Die Auswahl war klein. Kurz vor Weihnachten die Preise, vor allem für Lebensmittel, deutlich zu erhöhen, kam bei vielen Menschen nicht gut an. Aber dass die Stimmung kippen würde, hatte die kommunistische Führung in Warschau nicht erwartet. Zu sehr rechnete sie mit dem positiven Nachhall und der Zustimmung für den "diplomatischen Erfolg" des Vertrags mit West-Deutschland.
"Gomułka dachte wohl, die Menschen würden sich daran satt essen. Aber was interessiert schon einen Arbeiter ein 'diplomatischer Erfolg'?”, so Ruchlewski im DW-Gespräch. Das Land steckte in einer Krise. Besonders den jungen Leuten fehlten die Perspektiven - nach Ruchlewskis Einschätzung haben die Menschen auch deshalb so heftig reagiert.
Was nützt ein Fernseher, wenn man Hunger hat?
Gleichzeitig wurden zwar die Preise für Autos, Staubsauger oder Kühlschränke herabgesetzt, aber das Verhältnis stimmte nicht. "Die Menschen haben sich gedacht: 'Wir sollen uns einen Fernseher kaufen, um mit leerem Bauch irgendeine blöde Sendung zu gucken?'", fährt Ruchlewski fort. Und so entlud sich der Ärger, es kam zu Protesten. Der Funken sprang von der Werft in Gdansk/Danzig auf andere Betriebe über - und keiner der Mächtigen traute sich, mit den wütenden und enttäuschten Arbeitern zu reden. Die Spannung wuchs. Nach neun Stunden kam dann der Befehl, die Revolte "im Keim zu ersticken". Ein ungleicher Kampf, denn überwiegend junge Menschen hatten es mit 9000 Miliz-, und weiteren Spezialkräften, 27.000 Soldaten, 550 Panzern und sogar Hubschraubern zu tun, so der Historiker: "Die Untersuchungsgefängnisse waren überfüllt. Betrunkene Milizionäre prügelten auf Arbeiter ein, drückten Zigaretten auf ihnen aus, folterten."
Zum Symbol dieser Tage wurde der 18-jährige Zbyszek Godlewski, der am 17. Dezember, dem "Schwarzen Donnerstag", auf seinem Arbeitsweg zur Werft in Gdynia/Gdingen erschossen wurde. Seine Leiche wurde von Demonstranten auf einer Tür durch die Straßen der Stadt getragen.
Nach offiziellen Angaben kamen in jenen blutigen Tagen an mehreren Orten im Land 45 Menschen ums Leben, mehr als 1000 wurden verletzt. Das jüngste Opfer war erst 15. Przemysław Ruchlewski erzählt, die politische Führung habe sogleich mit dem Vertuschen begonnen. Die Behörden hätten Selbstmorde und Unfälle vorgetäuscht, Todesurkunden gefälscht. Die Opfer seien nachts und in Abwesenheit ihrer Familien beerdigt worden, die oft nicht wussten, wo sich die letzte Ruhestätte ihres Kindes, Mannes, Vaters befand.
"Ich mag den Dezember bis heute nicht"
Auch der Solidarność-Veteran Bogdan Borusewicz verlor einen früheren Schulfreund. Bis heute assoziert er den Monat Dezember mit der Revolte vor 50 Jahren. Damals war er 21 Jahre alt und musste sein Studium in Lublin unterbrechen, weil die Behörden die Studenten nach Hause schickten. "Ich stieg in Zoppot als einziger aus dem Zug, es war schon dunkel. An den Bäumen hingen weiße Zettel, auf denen die Polizeistunde bekannt gegeben wurde. Ich war voller Angst, denn um diese Uhrzeit durfte man nicht mehr auf der Straße sein. Auf einmal näherte sich mir ein Schatten. Es war eine Frau, die hinter einem Baum stand. Sie sagte: 'Ich dachte, Sie wären mein Sohn. Ich warte hier auf ihn.' Mir wurde mulmig zumute."
Den Weg der Arbeiter in die Danziger Werft hatte der damals 25-jährige Jan Juchniewicz von seiner Wohnung aus im Blick. Der Hobbyfotograf und spätere Anwalt sollte zum Chronisten der polnischen Protestbewegungen werden. Sein Archiv umfasst tausende Aufnahmen und reicht bis 1989.
Im Gespräch mit der DW erinnert er sich, wie Milizionäre mit Knüppeln auf eine Männergruppe einschlugen, dann hinter einem Jungen herrannten: "Auf einmal sah ich, wie sie ihre Pistolen hervorholten und auf ihn schossen. Ich weiß nicht, ob er überlebt hat". Juchniewicz übergab seine Fotos vor fünf Jahren dem Europäischen Solidarność-Zentrum. Was er sah und fotografierte, bestätigte ihn in seinem Eindruck, in einem "unterdrückten Land" zu leben, "in dem die Sowjets diktierten, wie zu leben war". Die Revolte habe ihm aber, wenn auch nur kurz, Hoffnung auf Veränderung gemacht - verbunden mit dem Gedanken, dass die Sowjets Änderungen nicht zulassen würden, betont er. Erst zehn Jahre später kam neue Hoffnung auf.
Was die Solidarność-Bewegung von den Protesten 1970 lernte
Bogdan Borusewicz, der spätere Mitbegründer der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność, gehörte 1980 zu den Drahtziehern der legendären August-Streiks, die abermals auf der Danziger Lenin-Werft begannen. Im Gespräch mit der DW erinnert er sich daran, dass die Danziger Streiks auf den Erfahrungen der "Dezember-Tragödie" aufbauten. Er ist davon überzeugt, dass es ohne die Ereignisse von 1970 den Erfolg vom August 1980 nicht gegeben hätte.
"Im Dezember waren wir überhaupt nicht vorbereitet", erinnerte sich unlängst auch Lech Wałęsa im DW-Interview, der spätere Vorsitzende der Gewerkschaft Solidarność, der schon 1970 Mitglied des Streikkomittees auf der Danziger Werft war. Er erinnere sich, dass er damals dachte: "Das muss man schnell beenden, Menschen schützen und sich vorbereiten". Zehn Jahre habe er sich dann vorbereitet und "es dann wohl gut ausgefochten", beurteilt er sich selbst.
1980 gesellten sich zu den erneut wirtschaftlichen Forderungen der Arbeiter auch politische, darunter die Forderung, ein Mahnmal für die Toten vom Dezember 1970 zu errichten. Die zentrale Lehre aber, die die Streikenden 1980 aus den Erfahrungen von 1970 zogen: Den Betrieb, die Werft nicht zu verlassen, "damit die Arbeiter in den Werken blieben, um auf eigenem Territorium Angriffe abwehren zu können", sagt Borusewicz. Für ihn liegt eine historische Ironie in dem Umstand, dass letztlich gerade in der Lenin-Werft der Marxismus-Leninismus überwunden wurde. "Dieser Streik richtete sich nicht bloß gegen die Macht, sondern auch gegen den Kern ihrer Ideologie 'der Herrschaft der Werktätigen'. Doch die wirklichen Arbeiter streikten und wollten regieren", so Borusewicz. Zehn Jahre zuvor hätten die Machthaber geglaubt, die "Dezember-Ereignisse", wie die Revolte in der Sprache der kommunistischen Propaganda hieß, "erledigt" zu haben. Die blutig niedergeschlagenen Proteste bargen aber bereits den Keim für den Niedergang der Diktatur, meint der heute noch aktive Politiker Borusewicz.
Die Sühne dafür lässt immer noch auf sich warten. 2013 wurden nach einem 20-jährigen Verfahren zwei damalige Militärbefehlshaber schuldig gesprochen - niemand aus der einstigen Parteiführung wurde je zur Rechenschaft gezogen.