Interview WFP zur Krise in Ostafrika
15. Juli 2011DW-WORLD.DE: Sie sind gerade aus der Region Dadaab im Norden Kenias zurückgekommen. Das Gebiet grenzt an Somalia und beherbergt derzeit das größte Flüchtlingslager der Welt. Es ist ausgelegt für 90.000 Menschen, tatsächlich leben dort derzeit aber rund 400.000 Menschen. Wie haben Sie die Situation in Dadaab erlebt?
David Orr: Die Lage ist wirklich sehr ernst. Es strömen noch immer jeden Tag viele Flüchtlinge aus Somalia in das Lager nach Dadaab. Viele dieser Menschen sind wochenlang gewandert. Die Flüchtlinge sind total erschöpft, sie sind hungrig und stark unterernährt. Die gravierende Unterernährung ist vor allem bei den Kindern sichtbar. Das ist alarmierend.
Was brauchen diese Menschen am dringendsten?
Sie brauchen Nahrung, Wasser und ein Dach über dem Kopf. Obwohl der Druck auf die Infrastruktur des Lagers mit jedem Flüchtling wächst, bekommen alle innerhalb weniger Stunden nach ihrer Ankunft eine Grundausstattung. Sie erhalten Nahrungsmittel, Decken, Schlafmatten und Kochutensilien. Das ist positiv. Aber dann wird es schwierig. Die vorhandenen Lager sind extrem überfüllt. Die Neuankömmlinge müssen an die Ränder ziehen, und da gibt es nichts für sie. Sie sind gezwungen, sich Hütten aus den Zweigen von Dornenbüschen zu bauen, über die sie dann ihre Decken legen. Der Wassernachschub und die sanitären Einrichtungen reichen nicht aus. Die Umstände sind extrem, es funktioniert so gut es unter diesen Umständen geht.
Was sind die Flüchtlinge in Dadaab für Menschen?
Sie sind ganz überwiegend Hirten und Viehhüter, aber auch Ackerbauern. Ich habe mit vielen Hirten gesprochen, die ihren gesamten Viehbestand verloren haben. Ohne ihre Kamele, Schafe und Ziegen können sie nicht leben. Das ist alles, was sie besitzen. Also brechen sie auf und machen sich auf die Suche nach Hilfe. Das gleiche gilt für die Bauern, die ihre ganze Ernte verloren haben, ihre Familie nicht ernähren können und genauso vor dem Nichts stehen.
Wie hoch ist die Sterberate?
Wir hören immer wieder von Kindern, die auf der Flucht sterben. Einige sterben auch noch, nachdem sie das Lager erreicht haben, weil sie zu ausgezehrt und erschöpft sind. Aber bei den meisten, die das Lager erreichen, greift die Hilfe, und sie überleben.
Es hat seit der großen Hungersnot in Äthiopien und Sudan in den Jahren 1984 und 1985 keine vergleichbare Hungerkatastrophe mehr gegeben. Erleben wir jetzt eine vergleichbare Hungersnot?
Ich denke nicht, dass wir zu diesem Zeitpunkt von einer gleichen Hungersnot wie damals sprechen können. Es gibt für die Definition des Begriffs Hungersnot genau festgelegte Parameter. Die Sterblichkeitsrate, das Ausmaß der Unterernährung und der Grad des Zusammenbruchs der Lebensgrundlagen sind entscheidend. Daran gemessen sind wir noch nicht an einem vergleichbaren Punkt wie damals angekommen. Auf der anderen Seite wissen wir aber auch nicht, wie es in weiten Teilen Südsomalias aussieht. Wir haben keinen Zugang. Gemessen an den Flüchtlingen, die wir außerhalb erleben, ist der Grad der allgemeinen Unterernährung sehr ernst.
Im Osten Afrikas sollen rund zehn Millionen Menschen von Hunger bedroht sein. Das passiert nicht über Nacht. Auch die Dürre in der Region hat nicht über Nacht eingesetzt. Warum sind wir so schlecht vorbereitet?
Wir waren auf einiges vorbereitet, aber nicht auf alles. Als am Ende des vergangenen Jahres die kurze Regenzeit endete, wussten wir, dass es viel zu wenig geregnet hatte. Wir wussten, dass ganz besonders die Hirten und Ackerbauern in der Region in Gefahr waren. Aber wir konnten damals nicht davon ausgehen, dass wir diese Massenflucht erleben würden. Das Welternährungsprogramm versucht, diese bedrohten Gemeinschaften weniger angreifbar zu machen. Wir investieren viel in das Speichern von Wasser, in den Bau von Dämmen und in die Kontrolle der Bodenerosion. Doch die Wahrheit ist, wenn so etwas wie jetzt passiert, dann ist klar, dass wir nicht genug getan haben. Ich möchte aber auch die Geberländer in die Verantwortung nehmen. Vielleicht sollten sich die Geberländer stärker auf die Entwicklungsarbeit konzentrieren und nicht warten, bis es zum Ernstfall kommt. Es spielen viele Faktoten eine Rolle.
Ich finde es auffällig, dass die Menschheit es immer wieder schafft, die frühen Warnsignale des Hungers zu ignorieren.
Wir können nie genug tun. Aber ich würde doch sagen, dass die Welt seit der Hungersnot in Äthiopien Mitte der 1980er Jahre gelernt hat. Wir haben seitdem nie wieder eine vergleichbare Hungersnot erlebt. Das ist die positive Sicht auf die Dinge. Auf der anderen Seite können wir nicht ignorieren, dass sich Dürren heute in kürzeren Zeitabständen ereignen. Früher waren es in der Regel 11 Jahre, dann waren es nur noch sechs. Und in Ostafrika haben wir 2007 und 2009 Dürren erlebt. Das ist alarmierend. Das müssen wir berücksichtigen.
Was sind die Konstanten des globalen Hungers?
Wir können gerade alle Konstanten in Somalia erleben. Die Menschen haben durch Krieg, Unsicherheit und durch das extreme Wetterphänomen einer Dürre keinen Zugang zu Nahrung. In anderen Teilen der Welt spielen Erdbeben oder ein Tsunami als Wetterphänomene eine Rolle. Es kommt aber noch ein dritter, ganz entscheidender Faktor dazu: die steigenden Nahrungsmittelpreise. Wir haben im vergangenen Jahr am Horn von Afrika gravierende Preissteigerungen erlebt, vor allem in Äthiopien, Somalia und Kenia. Für verwundbare Menschen wie Hirten und kleine Ackerbauern wirkt die Preissteigerung besonders zerstörerisch. Wir erleben das jetzt geballt und sehr sichtbar am Horn von Afrika.
Wie sieht die kurzfristige Lösung aus?
Zweifellos würde es den betroffenen Menschen sehr helfen, wenn wir ihnen schon innerhalb Somalias, im Süden des Landes, helfen könnten. Im Moment müssen sie fliehen, um uns zu erreichen. Wir werden die Nahrungsmittelhilfe und Nothilfe jenseits der Landesgrenze aufrechterhalten. Aber wir können uns nicht nur auf die Flüchtlingslager konzentrieren. Wir haben es hier mit einer regionalen Krise zu tun. Wir schätzen, dass bis zu 11 Millionen Menschen humanitäre Hilfe brauchen. Im Augenblick versorgen wir am Horn von Afrika sechs Millionen Menschen mit Nahrung, und die Zahl der Bedürftigen steigt täglich. Wir bereiten uns darauf vor, in den nächsten Monaten eine wachsende Zahl von Menschen zu versorgen.
Millionen von Menschen dauerhaft mit Nahrungsmitteln zu versorgen kann nicht die Lösung sein. Was muss perspektivisch passieren?
Wir haben es hier mit einer Notsituation zu tun. Diese Krise wird hoffentlich nicht ewig dauern. Es gibt viel, was wir tun können. Und wir sollten immer im Hinterkopf behalten, dass der Klimawandel ein konstanter Faktor ist. Wir müssen in Mechanismen investieren, die anfällige Gemeinschaften widerstandsfähiger gegen klimatische Schocks machen. Daran müssen wir arbeiten. Wir müssen gemeinsam mit diesen Gemeinschaften zum Beispiel Dämme und Wasserspeicher bauen. Wir können in der Region Turkana im Nordwesten Kenias beobachten, dass das ein erfolgreicher Weg ist. Die Menschen dort sind von der aktuellen Krise viel weniger betroffen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Sandra Petersmann.
Redaktion: Martin Schrader